Biographie-Projekt Hans Deichmann (Karl Heinz Roth)

Die Vorbereitung der biographischen Studie über Hans Deichmann bildete 2013 den Schwerpunkt meiner historischen Arbeiten. Je tiefer ich dabei in die Materie eindrang, desto deutlicher wurde mir, dass die Vita Hans Deichmanns nicht nur gravierende epochale Umbrüche einschließt, sondern auch in vielschichtige, dramatische und teilweise auch zutiefst widersprüchliche Kontexte eingebettet ist. Dieser Befund bezieht sich nicht nur auf die besonders ereignisreichen Jahre in der Italien-Dienststelle des Chemie-Beauftragten Carl Krauch von 1942 bis 1945, sondern auch auf alle Lebensetappen, die auf den mit dem Zusammenbuch der väterlichen Privatbank im Jahr 1931 verknüpften abrupten persönlichen Perspektivwechsel gefolgt sind. Darüber hinaus werden neben den beruflichen, wirtschaftsbehördlichen, juristischen, unternehmerischen und publizistischen Handlungsfeldern auch wesentliche kulturhistorische Szenarien tangiert, die mit der Einbindung in den Wiener Kreis um Eugenie Schwarzwald begannen und sich bis in die eigenen mäzenatischen Aktivitäten der späten Lebensjahrzehnte fortsetzten. Das alles wird wiederum durch die traumatischen Erfahrungen und Verstrickungen überlagert, die den Auslandsmanager der deutschen Rüstungswirtschaft auf die Seite der Alliierten und schließlich in die Aktionsfelder der italienischen Resistenza geführt haben. In diese oftmals rasch wechselnden Funktionen war Hans Deichmann als Mann der zweiten oder dritten Reihe eingebunden, und gerade diese enge kontextuelle Verquickung ließ ihn zu einer verdeckten Schlüsselfigur werden, anhand derer der Blick auf die Extrem-Konstellationen eines extremen Jahrhunderts frei wird. Ich habe der Studie deshalb den Arbeitstitel „Akteur eines extremen Jahrhunderts: Hans Deichmann (1907-2004). Eine Biographie“ gegeben.

Eine weitere retardierende Komponente bildete das Quellenproblem. In den vergangenen Jahren ist die der Biographie zugrunde legende Dokumentensammlung in periodischen Intervallen sprunghaft angewachsen. In den ersten Monaten des Berichtsjahrs arbeitete ich die von Mathias Deichmann weitergegebenen Konvolute aus dem schriftlichen Nachlass (fünf Umzugskartons) auf. Anfang Juni folgte eine Archivreise nach Wiesbaden, Ludwigshafen und Koblenz, die die Wissensgrundlage über die Aktivitäten Hans Deichmanns in der Zeit vor der Remigration nach Italien (Herbst 1945 bis Herbst 1948) und danach als Verwaltungsratspräsident des Mailänder Unternehmens SASEA wesentlich ergänzte. Seit September stellten mir Mathias Deichmann und Maria Lauper weitere Disketten der früheren Privatsekretärin Hans Deichmanns mit umfangreichen Korrespondenzen zur Verfügung, die vom IT-Moderator unserer Stiftung schließlich erfolgreich konvertiert werden konnten. Darauf folgte gegen Jahresende die Nachricht über neuerliche Materialfunde mit Dokumenten aus der frühen Nachkriegszeit. Aufgrund dieser disparaten Teillieferungen war ich in periodischen Abständen mit der Konsolidierung und Erweiterung des schriftlichen Nachlasses von Hans Deichmann beschäftigt. Darüber hinaus wurden die aus dem Vorjahr stammenden Interviews transkribiert und durch weitere Interviewserien ergänzt. Die Erschließung des mittlerweile enorm angewachsenen Bestands wird sich bis in die Frühjahrsmonate 2014 hinziehen. Nach der Erstellung des Findmittels werde ich dann eine biographisch-chronologische Suchliste erstellen und versuchen, die bis dahin noch vorhandenen Informationslücken im Rahmen einer letzten Archivreise zu schließen. Mit der Niederschrift kann dann in der zweiten Hälfte des Jahrs 2014 begonnen werden.

Am 9. September, dem Geburtstag Hans Deichmanns, habe ich im Rahmen einer Tagung der Freya von Moltke-Stiftung das Biographie-Projekt erstmalig vorgestellt. Dabei habe ich versucht, den in vieler Hinsicht prägenden Einfluss Eugenie Schwarzwalds und ihres Kreises auf das Leben von Hans Deichmanns darzustellen (vgl. die schriftliche Fassung des Vortrags im Anhang dieses Tätigkeitsberichts). Aus dem Kontext der Tagung und der anschließenden Diskussion ergaben sich vielfältige Anregungen. Helmuth Caspar von Moltke warf die – bislang archivalisch nicht verifizierbare – Frage auf, ob Hans Deichmann zu den Ersten gehört habe, der die Alliierten über das Konzentrations- und Vernichtungslager Ausschwitze informiert hat. Darüber hinaus kam ich erstmalig mit  dem Dokumentarfilmer Alfred Jungraithmayr, der Hans Deichmann ausführlich zu einem Dokumentarfilm über Monowitz interviewt hatte, in Kontakt.