Heinrich Senfft

 

Richard von Weizsäckers Erinnerung an Vater und Zeitgeschichte

Deutschland hat so wenige vorzeigbare Galionsfiguren, dass es mit den vorhandenen sehr behutsam umgeht und nicht widerspricht, auch wenn sie noch so Erstaunliches sagen. Im März 2005 begann die FAZ damit, in ihren Samstag-Ausgaben ganzseitige Interviews mit „prominenten Zeitzeugen oder Historikern“ abzudrucken, die FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher und SPIEGEL-Chefredakteur Stefan Aust für die zwölfteilige DVD-Dokumentation der Zeitung und SPIEGEL-TV „Hundert Jahre Deutschland“ produziert hatten[1].

I.

Als erster Zeitzeuge wurde der frühere Bundespräsident Dr. Richard Freiherr von Weizsäcker am 5. März vorgestellt. Die zweite Frage von Schirrmacher und Aust lautete: „Von wann an haben Sie gemerkt, dass der Krieg für Deutschland verloren ist?“ Und Weizsäcker antwortet: „Ich erinnere mich nicht an irgendeinen Tag, an dem ich ernsthaft geglaubt habe, dass der Krieg gewonnen werden könnte.“ Trauten sich die beiden Journalisten nicht nachzufragen – oder wussten und wissen sie nicht, was Richards Vater Ernst, damals Staatsekretär in Ribbentrops Auswärtigem Amt, am 19. August 1941 in seine Weizsäcker-Papiere schrieb: „Wenn jetzt im Dnjepr-Bogen keine grosse, sondern eine kleine Umfassung gemacht wurde, so soll das auf die direkte Weisung des Führers zurückgehen, der hier u. auch an anderen Stellen Vorsicht walten lasse. Daher sei auch in der Mitte, d.h. vor Moskau, der grosse ‚Halt’ eingetreten (der Richard leid tat, da alles im Rutschen gewesen sei.)“[2]. Und wenn die beiden fragenden Journalisten dieses Zitat nicht kannten: warum gingen sie so unvorbereitet in ein solches Interview? 

Weizsäcker sagt ihnen: „Die Sorge, dass das Hitler-Regime einen gefährlichen Weg nehmen würde, war auch schon vor dem Jahr 1938 vor allem ausserhalb Deutschlands weit verbreitet.“ In jenem Jahr 1938 aber war Weizsäckers Vater gerade Staatssekretär im Auswärtigen Amt geworden. Die Journalisten sagen: „Hitler hat später gesagt, das Münchener Abkommen sei der grösste Fehler seines Lebens gewesen. Ihr Vater war beteiligt als Díplomat am Zustandekommen dieses Abkommens ...“ – und da fährt Sohn Richard dazwischen: „ ... und zwar konspirativ, ... und die Bewahrung des Friedens hatte nun einmal Priorität.“ Am 19. Februar 1984 hatte Günter Gaus den damals designierten Bundespräsidenten in der TV-Serie „Deutsche“ gefragt, was er als Sohn zu seinem Vater zu sagen habe, der dem nationalsozialistischen Staat von Anfang bis Ende gedient habe, vor allem von 1938 bis 1943 als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Ribbentrops, wie er zu dem Streit darüber stehe, ob es zulässig gewesen sei, den Versuch zu machen, das Schlimmste zu verhindern oder nicht das einzig Richtige, diesem Regime nicht zu dienen? Weizsäcker bekannte damals, er habe in dem Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess, „der meinem Vater gemacht wurde, anderthalb Jahre voll als Verteidiger mitgearbeitet – und aus tiefer innerer Überzeugung“. Sohn Richard glaubt nicht, dass sein Vater „sich dem Regime zur Verfügung gestellt hat“. Denn: „Er war wie die anderen in seinem Beruf Beamter des Auswärtigen Dienstes.“ 1987 hatte Weizsäcker über seinen Vater gesagt: „Sein Ziel war es, den Ausbruch des Krieges zu verhindern. Dazu hat er das Amt, das ihm angetragen wurde, übernommen.“ Kann man darüber vergessen, dass er noch am 5. März vor seiner Ernennung zum Staatssekretär auf Seite 122 in sein Tagebuch eingetragen hatte: „Wenn Ribbentrop und Führer mich wollen, so folge ich als Soldat“[3]?. Das war gerade ein Monat, nachdem Hitler den Reichswehrminister Werner von Blomberg und den Oberbefehlshaber des Heeres, Werner Freiherrn von Fritsch, durch ordinäre Tricks aus den Ämtern entfernt hatte. Vater Weizsäcker wurde damals nicht nur Staatssekretär, sondern auch Partei– und SS-Mitglied; Himmler machte ihn am 20. April 1938 zum SS-Oberführer (übersetzt: Brigadegeneral) beim Persönlichen Stab des Reichsführers SS. 1942 wurde er zum SS-Brigadeführer (Generalmajor) befördert[4]. 

Und warum ist der Vater Staatssekretär geblieben, nachdem er den Krieg nicht hatte verhindern können? Noch vier Jahre lang?[5] 

Günter Gaus hatte den 1984 angehenden Bundespräsidenten noch nicht einmal gefragt, ob sein Vater, der, wie Wein schreibt[6], die Weimarer Republik „abschätzig beurteilte“, Nazi gewesen sei[7] – das hätte der Sohn mit gutem Gewissen verneinen können. Wer in diesem feinen Amt war schon Nazi? Dazu waren ihnen die Braunhemden viel zu ordinär. Aber der Sohn geht weiter: Der Vater habe nicht einmal dem Nazi-Regime gedient. Unter Ribbentrop war er der höchste Beamte des Aussenministeriums von 1938 bis 1943, und selbst danach war er sich für einen Botschafterposten am Vatikan bis zum Ende des Krieges nicht zu schade. „Aus tiefster innerer Überzeugung“ hat der spätere Bundespräsident diesen Staatsekretär der Nazis verteidigt, weil er doch seine Aufgabe darin gesehen habe, „für Deutschland eine gesicherte aussenpolitische Situation wieder herbeizuführen“. Wie konnte die unter Hitler schon aussehen? Weizsäcker sagt, sein Vater habe „sich einem Versuch verschrieben, der gescheitert ist“[8]. 

Ernst von Weizsäcker hat sehr genau gewusst, was vor sich ging. Der Gesandte Albrecht von Kessel, im Auswärtigen Amt Vertrauter des Staatsekretärs, sagte 1964 in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, alle höheren Beamten des Auswärtigen Amtes hätten seit 1941 gewusst, „dass die Juden planmässig auf die eine oder andere Weise physisch ausgerottet werden sollten“[9]. Und am 20. Januar 1942 nahm sein Unterstaatssekretär Martin Luther an der Wannsee-Konferenz teil, bei der Heydrich den Plan der „Endlösung“ bekanntgab: 11 Millionen europäische Juden sollten in osteuropäische Lager deportiert und dort umgebracht werden. Hat Luther das seinem Chef verschwiegen?[10]Wegsehen oder Weghören half nichts, denn es musste eine um die andere Unterschrift oder Paraphe geleistet werden: Schon am 9. März schickte Eichmann, der Heydrich zur Wannsee-Konferenz begleitet hatte, die erste Judenanforderung an das Auswärtige Amt: 1 000 Juden, teils Franzosen, teils Staatenlose, sollten vom Lager Compiègne in einem Sonderzug abtransportiert werden – nach Auschwitz. Das Auswärtige Amt kabelte an die Pariser Botschaft und fragte, ob dort Bedenken bestünden. Da kam schon ein neuer Eichmann-Brief: Weitere 5 000 Juden sollten aus Frankreich abtransportiert werden. Am 20. März hatte Eichmann die schriftliche Zustimmung des Auswärtigen Amtes für alle 6 000 Juden in Händen: Staatssekretär Ernst Freiherr von Weizsäcker und die Unterstaatssekretäre Ernst Woermann und Martin Luther hatten sie abgezeichnet. Drei Monate später wollte Eichmann 90 000 Juden deportieren. Diesmal musste er fünf Wochen warten, bis das Auswärtige Amt zustimmte, aber „im Hinblick auf die psychologischen Rückwirkungen“ bat, erst die staatenlosen Juden wegzuschaffen; diese Empfehlung hatte der deutsche Botschafter in Paris, Otto Abetz, gegeben[11]. 

Im Nürnberger sogenannten Wilhelmstrassenprozess wurde Ernst von Weizsäcker wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Verfolgung von Juden – und Verbrechen gegen den Frieden zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt[12]. Durch Beschluss wurde die Strafe 1949 von sieben auf fünf Jahre herabgesetzt und der Vorwurf des Verbrechens gegen den Frieden fallengelassen[13]. Im Urteil heisst es: „Weizsäcker hat zwar zugegeben, dass ihm viele Dinge aufs Pult gelegt und von ihm abgezeichnet worden seien, gegen die er innere Bedenken und Skrupel hegte, aber es sei trotzdem im Amt geblieben, und zwar aus folgenden zwei Gründen: Erstens, um auf diese Weise wenigstens einen Kristallisationspunkt in der heimlichen Widerstandsbewegung gegen Hitler zu bilden, dadurch, dass er einen wichtigen Horchposten bekleidete, Mitglieder der Widerstandsbewegung in strategischen Posten hielt und den Widerstandsgruppen in der Wehrmacht, den verschiedenen Regierungsabteilungen und der Zivilbevölkerung Nachrichten übermittelte, und zweitens, um in der Lage zu sein, Versuche zu Friedensverhandlungen einzuleiten oder bei slchen Versuchen mitzuhelfen. Wir glauben ihm; aber obgleich dies als mildernder Umstand in Betracht gezogen werden kann und werden wird, bringt es die Anklage wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht zum Scheitern. Man darf die Begehung eines Mordes nicht gutheissen oder dabei mitwirken, weil man hofft, man könne auf diese Weise die Gesellschaft am Ende von dem Hauptmörder befreien. Im ersten Fall handelt es sich um ein unmittelbar gegenwärtiges Verbrechen, im zweiten Fall nur um eine zukünftige Hoffnung. Als die SS anfragte, ob das Auswärtige Amt irgendwelche Bedenken habe, war es die Pflicht des Angeklagten, auf diese Bedenken hinzuweisen. Das ist die Funktion einer politischen Abteilung und eines Staatsekretärs im Auswärtigen Amt. Diese Pflicht wird nicht dadurch erfüllt, dass man nichts sagt und nichts tut. Selbst der Zeuge des Angeklagten, Schlabrendorf, der persönlich aktiv und führend in der Widerstandsbewegung tätig war und an dem Komplott vom 20. Juli 1944 teilnahm, hat ausgesagt, dass die Mitgliedschaft in dieser Bewegung einen Menschen nicht dazu berechtigt habe, bei dem Programm zur Ermordung der Juden mitzuwirken. In diesem und in gleichgelagerten Fällen werden die Angeklagten Weizsäcker und Wörmann SCHULDIG gesprochen“[14]. 

Schirrmacher und Aust fragen den Sohn Weizsäcker: „Was haben Sie mitbekommen als Offizier mit Ihren Verbindungen über das, was an Greueltaten im Osten passiert ist?“ Weizsäcker antwortet: „Das ist ganz eindeutig; wenig bis nichts. Wir haben keine englischen Sender gehört, und wir sassen nicht in gemütlichen Büroräumen und konnten uns über die Welt informieren. Wir waren halt als Infanteristen irgendwo an der Front eingesetzt. Der Krieg ist selbstverständlich nicht nur im rückwärtigen Heeresgebiet grausam. Aber das, was nun mit Recht das ganze Bild bestimmt, die Tätigkeit der Einsatzgruppen und die Konzentrationslager bis hin zum Stichwort Auschwitz, war nicht bekannt bei uns. Ich weiss nicht, wann ich das Wort Auschwitz zum ersten Mal gehört habe, aber sicher nicht vor dem Frühjahr 1945.“ Die Journalisten hatten nicht nach Auschwitz, sondern ganz allgemein nach „Konzentrationslagern und Massenvernichtungslagern“ gefragt, monierten aber Weizsäckers Antwort nicht, sondern fragten weiter: „Und wie ist das bei Ihrem Vater gewesen? Glauben Sie, dass er etwas gewusst hat? Hat er Ihnen während des Nürnberger Prozesses etwas über diese Dinge gesagt?“ Da antwortete Sohn Richard, der danach nicht gefragt worden war: „Dass er das Wort Auschwitz im Jahre 1943, als er nach Rom versetzt wurde, nicht kannte, hat er mir auf völlig glaubwürdige Weise versichert. Er hat immer gesagt, dass das, was er wusste, vollkommen genug war, um seine Position zu klären“. War es nicht so, dass die ersten 1 000 Juden 1942 aus Frankreich, aus dem Lager Compiègne, im Sonderzug nach Auschwitz abtransportiert werden sollten und Vater Ernst diesen und so viele andere Deportationsbefehle abgezeichnet hatte? Wie hatte der Bundespräsident Weizsäcker seiner Rede zum 8. Mai 1985 formuliert: „Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben ... Jeder, der die Zeit mit vollem Bewusstsein erlebt hat, frage sich heute im stillen selbst nach seiner Verstrickung“[15]. Galt das nur für die anderen, nicht aber für Vater und Sohn Weizsäcker?[16] 

Oder Helmut Schmidt? Das Schirrmacher/Aust-Interview mit dem früheren Bundeskanzler konnte man am 9. April lesen[17]. Die beiden Journalisten fragen ihn, wann er zum ersten Mal eine Idee davon gehabt habe, dass die Nazis Verbrecher sind? Da sagte Schmidt: „Nach dem Krieg ... Ich habe von dem Genozid an den Juden nichts gewusst, wie viele Menschen damals.“ Aber Sie waren doch im Krieg. Wo sind Sie gewesen?“ „Zunächst im sogenannten Heimatkriegsgebiet, dann im Russlandfeldzug und ganz zum Schluss in der Ardennenoffensive im Westen. Aber ich war bei der vordersten kämpfenden Truppe, soweit ich in den Feldzügen war, und da sieht man nicht, was in der Etappe passiert, darüber redet man auch nicht.“ „Aber man hat gewusst, dass es Konzentrationslager gab?“, fragen die Interviewer: „Ich habe davon nichts gewusst, mein Vater auch nicht.“ „Es gab Konzentrationslager in der Nähe von Hamburg: Neuengamme, Bergen-Belsen“, wenden die Journalisten ein. Schmidt: „Mein Vater und auch meine Schwiegereltern, die Juden versteckten – nicht auf Dauer, nur für eine Nacht auf dem Boden und eine Nacht im Keller, und ein paar Tage später kam jemand anders für eine Nacht -, wir haben davon nichts gewusst.“ 

Bei Schmidt fragten die beiden wenigstens noch nach. Wer das bei Weizsäcker erwartete, irrte sich. 

Vater Ernst wurde dafür, dass er die Deportationsbefehle für Juden im ganzen besetzten Europa unterschrieb oder abzeichnete, gerade einmal zu sieben Jahren Haft verurteilt, aber schon Anfang 1950 entlassen und wird von seinem Sohn und vielen Kostgängern mehr und mehr geradezu als Widerstandskämpfer dargestellt. Aber einer wie der von den Amerikanern an die Tschechoslowakei ausgelieferte Nazi-Gesandte Hanns Ludin, der im slowakischen Pressburg solche Befehle qua Auswärtiges Amt„nur“ für die Slowakei abgezeichnet hatte, wurde 1947 von der Tschechoslowakei nach einem Prozess aufgehängt – auch solche Missverhältnisse verzerren das Geschichtsbild, vor allem, wenn man daran denkt, wie erfolgreich Richard von Weizsäcker immer noch am Widerstandsbild des Vaters arbeitet, zu dem der Vater freilich im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess den Grundstein gelegt hatte: “Im Interesse des Widerstandes behielt ich mein Amt, und indem ich im Amt blieb, konnte ich nicht verhindern, dass solche Dokumente über meinen Schreibtisch gingen, bei so einer Art von Regierung. Ich meine Dokumente, die Deportationen, Arbeitslager, Festnahmen usw. beinhalteten …Wie konnte ich mein Ziel erreichen; indem ich meine Position aufgab oder sie behielt?”. Es hätte ja auch die Möglichkeit gegeben, all diese Papiere nicht abzuzeichnen, die Gefolgschaft zu verweigern, was einige andere, viele gerade nicht, die nicht morden oder daran beteiligt sein wollten, ohne ernsthafte Nachteile auch getan haben. Auf Beförderung oder Versetzung nach Rom hätte Ernst von Weizsäcker dann freilich nicht mehr hoffen dürfen.

II.

Sohn Richard, 1920 geboren, zog 1939 als blutjunger Soldat mit seinem feinen Potsdamer Infanterie-Regiment 9, in dem man später so viele Widerstandsoffiziere finden sollte, in den Polen-Feldzug, in dem sein älterer Bruder gleich am zweiten Tag als Leutnant desselben Regiments ums Leben kam. Er war auch am 21. Juni 1941 beim Einfall in die Sowjetunion an vorderster Front dabei – und marschierte bis kurz vor Moskau, wo der grosse „Halt“ eintrat, „der Richard leid tat, da alles im Rutschen“ war. Der „stern“ kam Anfang der neunziger Jahre auf die Idee, zum fünfzigsten Jahrestag des Überfalls auf die Sowjet-Union einen Reporter – Ulrich Völklein - und einen Photographen – Wilfried Bauer – den Weg nachreisen und recherchieren zu lassen, den das Infanterie-Regiment 9 in der 23. Infanterie-Division 1941 - mit Ziel Moskau - genommen hatte. Der „stern“ hatte die Absicht, Völkleins Text und Bauers Bilder am 13. Juni 1991 auf den Seiten 58 bis 82 zu veröffentlichen – aber der Bericht über die Recherche des Marsches des Potsdamer Regiments auf Moskau erschien nicht – nur eine Photostrecke von acht Doppelseiten: „50 Jahre nach dem Angriff auf die Sowjetunion: Die deutsche Schuld“ – mit mageren Bildunterschriften des Photographen Wilfried Bauer. Ein Photo zeigt den späteren Bundespräsidenten hoch zu Ross: „Mit dabei: Richard von Weizsäcker als junger Offizier“[18]. Die anderen, ursprünglich für denVölklein-Text vorgesehenen Seiten wurden mit einer Geschichte über Elefanten mit „Blicken in eine Welt, die keinen Platz mehr für sie hat.“ gefüllt. Es habe, so liess die „stern“-Chefredaktion wissen, eine „interne Entscheidung“ gegeben, Völkleins Bericht nicht zu veröffentlichen, eine Entscheidung, die indes mit dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker nichts zu tun habe[19]. Später durfte Völkleins seinen Bericht in der Ost-Berliner „Wochenpost“ erscheinen lassen, die allerdings damals in Westdeutschland nicht vertrieben wurde[20]. Die Reportage beschrieb den Vormarsch: Am 22. Juni 1941 um 3:15 Uhr drang die Division in das sowjetische Gebiet ein und überschritt Mitte Juli die Beresina dort, wo schon Napoleon übergesetzt hatte, und zog in Ossowo ein. Als die Division die Stadt wieder verliess, war sie ausgeplündert. Ende Juli eroberte die Division die Stadt Mogilew am Dnjepr. Beim Kampf um die Stadt wurde Weizsäcker am Arm verletzt und bekam Genesungsurlaub in Berlin. Zurück an der Front war er bei der „Säuberung des Raumes um Wjasma“ dabei, wie das die Regimentsgeschichte formulierte[21]. In der zweiten Oktoberwoche wurde das nahegelegene Pekajowo niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht – dabei kamen 26 Frauen und Kinder um. Der danach befragte Bundespräsident liess durch seinen Sprecher Hans-Henning Horstmann erklären, er wisse davon nichts[22]. Im November erreichte die Division die Stadt Wolokolamsk, neunzig Kilometer nordwestlich von Moskau. „Da haben die Deutschen acht Komsomolzen gehenkt und vier weitere Leute, denen sie vorwarfen, mit den Partisanen Kontakt zu haben“, sagte dort eine Zeugin dem stern-Mann Völklein. „Im Stadthaus“, so fährt sie fort, „waren einige Hundert Gefangene. Vor ihrem Abzug haben die Deutschen die Fenster und die Türen des Hauses mit Stacheldraht versperrt und das Gebäude in Brand gesteckt. Diejenigen, die noch zu fliehen versuchten, wurden von aussen abgeschossen. Die übrigen sind mit dem Haus verbrannt.“ „Wie viele?“ „An die 600 Menschen.“ Der Sprecher des Herrn v. Weizsäcker erklärte, der Bundespräsident wisse nichts von diesen Vorgängen[23]. Anfang Dezember 1941 hielt die 23. Division die Ortschaft Oserezkoje nördlich von Moskau für eine Woche besetzt und richtete ein Lazarett ein. Als sich die deutschen Truppen aus dem Dorf absetzten, brannten sie die 360 Häuser nieder und brachten ihre eigenen Verwundeten um, weil sie sie nicht in Sicherheit hatten bringen können. Sein Sprecher sagte, der Bundespräsident habe von keiner der Untaten, die in den Fragen beschrieben seien, Kenntnis gehabt[24]. Es ist auch Ulrich Völklein aufgefallen, dass Weizsäcker in seinen „Lebenserinnerungen“[25] „auf seine Kriegszeit und die damit verbundenen, zweifelsohne aufwühlenden Ereignisse nur sehr verkürzt ein(geht)[26]. Da ist er bei Ernst Kindhauser in guter Gesellschaft: der besprach 1997 in der Züricher „Weltwoche“ Richard von Weizsäckers Erinnerungen und stellte fest: „Der bisweilen sehr farbig erzählende Weizsäcker verfällt bei den Schilderungen aus der Kriegszeit in eigentümliche Wortkargheit“[27] 

Das war 1997. Als 1995 der Begleitband zur sogenannten Wehrmachtsausstellung erschien[28] und Christian Gerlach darin schrieb., Offiziere des militärischen Widerstandes wie Henning von Tresckow und Rudolf-Christian Freiherr von Gersdorff seien im Osten an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen, entrüsteten sich Marion Gräfin Dönhoff und Richard von Weizsäcker in der ZEIT über die „selbstgerechtigkeit der Nachgeborenen“ und diesen „gewissen Christian Gerlach. Gräfin Dönhoff meinte, Gerlach habe „die Kenntnis von Verbrechen als bedeutungsgleich mit der Beteiligung an Verbrechen“ bewertet, und Weizsäcker schrieb zum Infanterieregiment 9: „Wahr ist, was Gerlach schreibt, dass bei uns einmal ein Befehl von hinten eintraf, wir sollten keine Gefangenen machen. Ebenso wahr ist, dass wir beim Regimentsstab über diesen Quasimordbefehl empört waren, ihn an die Bataillone nicht weitergaben und dass er, soweit mein Überblick als Regimentsadjutant reichte, bei uns auch nirgend(s) angewandt wurde“[29]. Der „gewisse Gerlach“ hat sich das nicht zweimal sagen lassen, sondern in seinem 1999 veröffentlichen Buch „Kalkulierte Morde“[30] dazu geschrieben: „Das ist nicht richtig. Am 25. Juni 1941 meldete eben das Infanterieregiment 9, beim Missbrauch der weissen Flagge durch Angehörie der Roten Armee seien am Vortag sechs Regimentsangehörige durch Schüsse aus dem Hinterhalt getötet worden. Daraufhin befahl Generalmajor Hellmich, der Kommandeur der 23. Infanteriedivision, der das Infanterieregiment 9 angehörte, das Zeigen der weissen Flagge im ganzen Divisionsbereich nicht mehr zu beachten (‚Es gibt kein Pardon!’). Die Weisung wurde umgehend auf das ganze VII. Armeekorps ausgedehnt. Das Infanterieregiment 9 hatte diesen ‚Befehl von hinten’ selbst provoziert (Gerlach Anm.41 mit Nachweisen). Am 28. Juni 1941 berichtete das Regiment an die Division: „Gefangene wurden nicht gemacht“. Das wurde mit „bestialischen Verstümmelungen“ an aufgefundenen deutschen Gefallenen begründet. Aus dem Bericht des Regiments und dem Kriegstagebuch der 23. Infanteriedivision geht hervor, dass das Infanterieregiment 9 die Entscheidung dazu selbst traf; offenbar handelte keine andere Einheit der Division so, obwohl die Misshandelten von diesen anderen Einheiten und nicht vom Infanterieregiment 9 stammten. Im übrigen metzelte das Infanterieregiment 9 dabei nach eigenen Angaben nicht einen militärisch intakten Gegner, sondern sich zurückziehende Versprengte ab (Gerlach Anm. 42 mit Nachweisen). Das private Tagebuch des damaligen Oberleutnants und Regimentsangehörigen Fritz-Dietlof Graf v.d. Schulenburg, der später als Teilnehmer des 20. Juli hingerichtet wurde und der im übrigen 1944 auch Richard v. Weizsäcker in die Verschwörung einbezog, zeugt von diesem Verbrechen.. Er schrieb unter dem 28. Juni 1941, es stecke ‚eine Gefahr darin, wenn unsere Leute anfangen auf eigene Faust ‚umzulegen’. Auch er befürwortete freilich, dass willkürlich Gegner, nämlich ‚im Kampf oder (!) nur auf Befehl von Offizieren erschossen werden’. Ähnlich sein Eintrag unter dem 29. Juni. ‚Von hinten’ kamen in jeder Phase eher Massregelungen wegen solcher Übergriffe, weil sich immer weniger Gegner ergaben und durch die gebundenen deutschen Kräfte der Schwung der deutschen Offensive in Gefahr geriet. (Anm. mit Hinweis auf Nachweise in Kap. 8.1 dieses Buches). Nicht alle Einheiten des Ostheeres handelten so. Nur waren es nicht nebulöse andere ‚Führungen und Einheiten ... , die sich an barbarischen Gewalttaten gegen wehrlose Menschen beteiligten’ (v. Weizäcker), sondern gerade auch das Infanterieregiment 9. Was bedeutet dann der Satz: ‚Es waren ja gerade die Erfahrungen mit dem Unrecht, die zum Beispiel unter den Offizieren meines Regiments die Einsicht in die Notwendigkeit des Widerstands reifen liessen’?(Anm. mit Hinweis auf Dönhoff/Weizsäcker a.a.o.). Insgesamt lässt sich die Darstellung v. Weizsäckers mit den vorgebrachten Quellen nicht in Einklang bringen. Jedem ist klar, warum es nur wenige schriftliche Dokumente über die Widerstandstätigkeit der Offiziersopposistion gegen Hitler geben kann. Die quellenkritischen Einwände des Historikers gegenüber nachträglichen Aussagen als Basis für die Geschichte der Oppossitionellen sind aber durch solche Darstellungen nicht ausgeräumt. Im Gegenteil“[31].

III.

Ausgerechnet 1984, dem Jahr, in dem Weizsäcker Bundespräsident wurde, kam heraus, dass das Chemie-Unternehmen C.H. Boehringer in Ingelheim wenigstens im den Jahren 1962 bis 1965 über seine Vertriebsfirma Cela Wirkstoffe und Verfahren für die Herstellung von Agent Orange an das amerikanische Unternehmen Dow Chemical geliefert hatte. Dieses Agent Orange setzten die USA im Vietnam-Krieg ein, was tödliche Krebserkrankungen, Fehlgeburten und Missbildungen verursachte. Damals, 1984, warf der “Spiegel“ Boehringer vor, die Gefahr des Giftes verheimlicht, die Arbeiter ungeschützt dem Dioxin ausgesetzt, ja sogar die Aufsichtsbehörden wissentlich getäuscht und Mülldeponien verseucht zu haben. Da Richard von Weizsäcker vom 1.Mai 1962 bis 30. Juni 1966 Mitglied der Boehringer-Geschäftsleitung war und die Nachfolge von Ernst Boehringer antreten sollte, erbat Otto Köhler nach der Wahl Weizsäckers zum Bundespräsidenten eine Stellungsnahme zu den Dioxin-Vorwürfen. Der damalige Sprecher des Präsidenten teilte mit, Weizsäcker wisse nichts von dem Vorgang, der auch gar nicht in seine Zuständigkeit gefallen sei; er sei am Abschluss von Verträgen nicht beteiligt gewesen und „wisse von gar nichts“. Weizsäcker habe gemeint, „ob es überhaupt Boehringer Ingelheim gewesen sei, es gebe auch noch Boehringer Mannheim. Und diese Firma Cela sagt ihm auch nichts Besonderes“[32]. 1992 legte der „Spiegel“ in einer zweiteiligen Serie „Der Tod aus Ingelheim“[33] nach und löste dadurch eine monatelange innerbetriebliche Untersuchung und die Veröffentlichung einer Broschüre „Unsere Dioxin-Geschichte“ aus: Es war eine Notiz vom 15.10.1956 zum Vorschein gekommen, die der medizinische Leiter Dr. Walter Graubner an den Boehringer-Vorstand geschrieben hatte. Graubner berichtete von „Giftstoffen“, die „einzigartig“ seien; es ist von „schwerster Zerstörbarkeit und unmerklicher Vergiftung durch Einatmung“ die Rede, von Stoffen, „nach denen sich die Politiker schon seit Jahrzehnten gesehnt haben“. In der Boehringer-Broschüre heisst es: „Wir wurden oft genug überrascht von dem, worauf wir stiessen. Es darf also nicht verwundern, wenn wir im Jahre 1992 Fakten und Vorwürfe anders werten als in der Vergangenheit“, denn dies sei eine „unselige Geschichte mit Fragen nach Schuld, Verantwortung, Nachlässigkeit und Wiedergutmachung“. Bei der internen Untersuchung kam auch eine Hausmitteilung vom 17.1.1964 über Verhandlungen zwischen Boehringer und Dow Chemical über den „akneerregenden Stoff“ zum Vorschein: sie ist an zwei Herren adressiert und an vier „zur Kenntnisnahme“, darunter „Dr. v. Weizsäcker“. Im Juni 1991 hatte der Bundespräsident dem „Spiegel“ gesagt, ihm sei über Chlorakne, die im Hamburger Werk eine Reihe von Arbeitern befallen hatte, „weder schriftlich noch mündlich je berichtet worden.“ Und dabei hatte Ernst Boehringer doch am 11. Mai 1962 angeordnet, alle „für Vorstand und Geschäftsführung bestimmten Zuschriften“ seien Weizsäcker zuzuleiten. Und am 12. Juli 1962 war ein sechsköpfiges Gremium mit Weizsäcker gebildet worden, „das zugleich auch die Belange der Untergesellschaften und aller nahestehenden Firmen betreut.“ Die Vorstandsanweisung 5/62 legte fest: diese Firmenleitung „arbeitet unter gemeinsamer Verantwortung.“ Im Juni 1991 hatte Weizsäcker dem „Spiegel“ gesagt, er sei erst Ende 1962 bei Boehringer eingetreten und habe „nur spärliche Kenntnisse über Produktion und Absatz gehabt“, sich „auf die Personalführung und –gewinnung im oberen Firmenbereich“ konzentriert und sei nicht „bei Verhandlungen über Zusammenarbeit mit anderen Gesellschaften dabeigewesen“[34].

IV.

Zur vierzigjährigen Wiederkehr des Endes des Zweiten Weltkriegs hielt der Bundespräsident am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag in Bonn seine landauf, landab und international gerühmte Rede[35]. Hätten ein paar mehr Leute die Rede richtig gelesen, so wäre sie als Zündfunke für den ein Jahr später ausbrechenden Historikerstreit erkannt worden, als der sehr ernst zu nehmende, weil intelligente, auch noch gut formulierte, aber problematische Versuch, mit den zwölf Nazi-Jahren auf andere Weise fertig zu werden: Hitler aus diesen Jahren hinauszubügeln, über diese Zeit eine Brücke zu schlagen, als ein „Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus“ zu verstehen, wie Martin Broszat, der damalige Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, das in einem Aufsatz nannte, der – zunächst fast unbemerkt – just im Mai 1985 in der Zeitschrift „Merkur“[36] erschien. 

Weizsäcker verbeugt sich vor den Opfern des Regimes, spricht von dessen Menschenverachtung und vergisst nicht zu erwähnen, wen ausser den Juden die Nazis noch geschunden und ermordet, wie viele Völker sie gequält und geschändet haben. Das hat die Rede wohl vor allem im Ausland so berühmt gemacht. So hat kaum einer die Pflaster bemerkt, die Weizsäcker gleich wieder auf die geöffneten Wunden legte: Hitler habe das deutsche Volk zum Werkzeug seines Judenhasses gemacht, die Ausführung des Verbrechens aber in die Hand weniger gelegt, die vor den Augen der Öffentlichkeit abgeschirmt worden waren; kollektive Schuld eines Volkes gebe es nicht – und im übrigen sei der grösste Teil der deutschen Bevölkerung damals Kind oder noch gar nicht geboren gewesen. 

Dann schlägt Weizsäcker den grossen Bogen: „Die anderen Völker wurden zunächst Opfer eines von Deutschland ausgehenden Krieges, bevor wir selbst zu Opfern unseres eigenen Krieges wurden.“. Nun, da Opfer und Täter, Gerechte und Ungerechte, Jung und Alt, Nazis und Nichtnazis alle gleich, alle Opfer sind, können, ja müssen wir zur allgemeinen Versöhnung schreiten. Manche junge Menschen, so sagt der Bundespräsident, hätten gefragt, warum es denn vierzig nach dem Krieg zu lebhafteren Auseinandersetzungen über die Vergangenheit gekommen sei als nach 25 oder dreissig Jahren? Als Antwort empfiehlt Herr von Weizäcker „noch einmal einen Blick auf das Alte Testament, ... das für jeden Menschen unabhängig von seinem Glauben tiefe Einsichten aufbewahrt“, zu werfen. Dort spielten jene 40 Jahre eine vielfältige Rolle: „40 Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt in der Geschichte mit dem Einzug in das verheissene Land begann; 40 Jahre waren notwenig für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.“ Gibt es für ein Land, das Verbrechen wie kein anderes begangen hat, etwas Schöneres, als den Opfern 40 Jahre später aus ihrer eigenen Bibel vorzulesen? Und wenn wir Deutsche vielleicht nicht gleich Anspruch darauf haben, nun auch ins verheissene Land einzuziehen, so können wir doch wenigstens „die Chance des Schlusstrichs unter eine lange Periode europäischer Geschichte nutzen“. 

Die Rede war im Grunde weniger ein im Ausland vorzeigbarer Beitrag vermeintlicher deutscher schuldeingestehender Selbsterkenntnis als die gloriose Ouvertüre zur Versöhnung mit unserer Geschichte, zur Stiftung einer neuen (west)deutschen Identität – die dann freilich der Fall der Mauer, die sogenannte deutsche Wiedervereinigung, empfindlich in Frage gestellt und das Land auf einen neuen, sehr langen Weg geschickt hat, dessen Ziel weder erkennbar noch ernsthaft formuliert ist. 

Nur Richard von Weizsäcker hat alle diese Erschütterungen unangefochten überstanden. Zwar hatten einige Westdeutsche die gerühmte Rede dann doch ein wenig kritischer gelesen, aber sie lasen sie mit westdeutschen Augen – wie zum Beispiel Eike Geisel[37], der den Bundespräsidenten als den – damals – „erfolgreichsten Arzt am Krankenbett der Volksgemeinschaft“ erkannte: „Nach der Rede Weizsäckers zum 8. Mai gab es in der Bundesrepublik weder die alten Parteien, noch die neuen Betroffenen, sondern nur noch die ganz neuen Ergriffenen“. Auch Christoph Türcke schreibt in seinem Essay „Identitätsverlust und Identitätskult“ im selben Band „Eingriffe“: „Der Historiker fragt: Wie muss die Vergangenheit dargestellt werden, damit die Gegenwärtigen sich heimisch in ihr fühlen?“ Aber gefragt waren auch da nur die Westdeutschen. Obwohl der Fall der Mauer nahe war, kam von diesen Autoren keiner auf die Idee, in die ferne und unerwünschte DDR zu schauen, die bald darauf und bis heute als Teil der Westrepublik wahrlich andere Sorgen hat und nicht weiss, wie sie mit den geerbten westlichen fertig werden soll. 

Nur Weizsäcker ging unbeschädigt aus diesem Tumult hervor. Erich Kuby nannte ihn schon 1988 in seinem Buch „ Deutsche Schattenspiele“[38] den „Karajan der Politik“, der es wie kein anderer verstehe, „deutscheVergangenheit so zu deuten, dass der Eindruck vollkommener Ehrlichkeit die opportunistisch-patriotische Bemühung überstrahlt, niemand weh zu tun, weder dem einzelnen Deutschen noch dem Volk insgesamt.“ Roger Willemsen erinnert daran[39], dass selbst Hans Magnus Enzensberger dem Bundespräsidenten auf den Leim gegangen ist, als er schrieb, der Präsident habe „eine Art von Glaubwürdigkeit gewonnen, die anderen Politikern völlig abhanden gekommen“ sei. „Was“, so fragt er, „soll es schliesslich an einem Poltiker zu glauben geben? Entweder heisst das, mit ihm stehen wir gut im Ausand da, sie nehmen uns nicht für das, was wir sind, dann ist seine Glaubwürdigkeit eine gelungene Irreführung, auf die wir offensichtlich angewiesen sind. Oder es heisst, dass man ihn über längere Zeit nicht beim öffentlichen Lügen erwischt hat, und das liegt auch bei Weizsäcker nur daran, dass man sich noch nicht die Mühe gemacht hat, alle seine Reden zu vergleichen und ernst zu nehmen. Genaugenommen ist er nämlich 

per definitionem alles andere als glaubwürdig ... In Wirklichkeit besteht der Weizsäcker-Effekt darin, dass es niemand kümmert, ob er die Wahrheit sagt, die wenigsten wissen ja überhaupt, was er sagt, schenken ihm aber blindlings, was er fordert, damit schöne Geschichte wahr werde: Glaube.“ Das geht durch alle Schichten und politischen Schattierungen. Am 19.5.1990 berichtet Mathias Schreiber in der FAZ über einen Auftritt Weizsäckers in Potsdam: „Von Weizsäcker ist ein Meister der unaufdringlich sich präsentierenden Vertrauenswürdigkeit, die auch im Widerspruch verbindlich bleibt.“[40] Und kurz vor Weizsäckers Amtsende schreibt Johannes Gross in seinem Notizbuch in der FAZ: „Das leichte und feine Sprechen, das schnell notierende Auge des Freiherrn von Weizsäcker, die Neigung zur sanften oder sarkastischen Ironie in den Mundwinkeln, die unauffällige Eleganz des Auftritts, der völlige Mangel an breiter Biederkeit. Der Mann, der jede Provinz darstellen konnte, ohne ihr anzugehören; er wird schon vermisst, ehe er abgetreten“[41]. Also ein Präsident für alle Fälle, ein idealer Präsident, einer, der 1996 zum 50jährigen Jubiläum des Springer Verlages unbefangen sagen konnte: „Wir begehen heute das fünfzigjährige Jubiläum eines Unternehmens, das aus der Geschichte nicht nur der Verlagsbranche, sondern vor allem unserer Demokratie nicht wegzudenken ist“[42] - eine Realsatire. 

Wie heisst es doch in der Anzeige des neuen Weizsäcker-Buches in der ZEIT vom 14. April 2005: „Was für eine Welt wollen wir?“[43]

 

Anmerkungen

[1] “Ich habe meinen Vater seitdem nie wieder lachen sehen – Wer im Amt blieb, um zu retten, wer bereit war zu sterben, und wie man sich erinnern kann: Richard von Weizsäcker über den Untergang des Dritten Reiches”, FAZ 5. März 2005, Seite 39.

[2] Leonidas E. Hill (Hg.), “Die Weizsäcker-Papiere 1933-1950”, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1974, S. 263f. Nur unvollständig zitiert Martin Wein, “Die Weizsäckers”, Stuttgart 1988, S. 482, diese Stelle: der Fähnrich Richard von Weizsäcker habe 1941 Hitlers Befehl, den Vormarsch auf Moskau zu bremsen, “für einen schweren Fehler” gehalten: “Vor Moskau sei beim Gegner bereits ‘alles im Rutschen gewesen’.”

[3] Vgl. Hans-Jürgen Döscher, “Das Auswärtige Amt im Dritten Reich”, Berlin 1987, S. 158

[4] Gegen die SS-Mitgliedschaft meinte die FAZ Ernst v. Weizsäcker in Schutz nehmen zu müssen, als der Prozess gegen den Lyoner Gestapochef Barbie im Mai 1987 begann. Barbie hob zu einer Rechtfertigungsrede an und schweifte ab: ‘Unter Berufung auf die Veröffentlichung einer Hamburger Zeitschrift”, so berichtet der Korrespondent der FAZ am 13. Mai (“v.M., Lyon 13. Mai, Die Anklageschrift gegen Barbie”, in: FAZ 14.5.1987), “erwähnt er eine angebliche SS-Zugehörigkeit des Vaters des gegenwärtigen Bundespräsidenten.”

[5] Vor allem, wenn es so gewesen ist, wie Ulrich v. Hassell am 6. April 1940 in seinem Tagebuch notierte: “Seine Lage ist in jeder Hinsicht abscheulich. Im Grunde hat er nichts zu sagen, wird aber mit verantwortlich gemacht.” (Ulrich v. Hassell, “Vom anderen Deutschland”, Zürich und Freiburg 1946, S. 166). Am 1. November 1942 legte Hassell nach: “Aber der ganze Kreis um Weizsäcker zeigt auf die Dauer immer mehr, dass er im Grunde schwach und beeindruckbar ist. Etwas, das nach Handeln schmeckt, ist von dort nicht zu erwarten”, ebenda, S276. Und am 15. Mai 1943 notiert er: “Hentig sehr scharf über Weizsäcker … Merkwürdig, wie oft man bei Schwaben beim tieferen Bohren auf mangel an Festigkeit des Charakters undeine durch Bonhommie verdeckte Bauerngerissenheit stösst; vgl. Kiderlen, Rümelin, Neurath, Weizsäcker” (ebenda, S. 307). Dazu passt Hassells Eintrag im Tagebuch am 27. Dezember 1943: (Kessel) behauptete aber, sein Chef (Weizsäcker) dränge mit äusserster Schärfe auf Aktion. Das ist vom Vatikan aus bequem! Vorher hat er sich doch nicht allzu tief eingelassen”, ebenda S. 337.

[6] Martin Wein, a.a.O., S. 474.

[7] Aber der Abschied von Weimar wird ihm nicht schwergefallen sein. In einem am 26.6.1998 veröffentlichten Leserbrief an die FAZ zu Friedrich Karl Frommes Besprechung von Richard von Weizsäckers Erinnerungen “Vier Zeiten” erinnert Dr. Johannes Posth aus Kiew an eine Äusserung Ernst von Weizsäckers vom 22.4.1933 zu dem von den Nazis Ende März 1933 ausgerufenen Judenboykott: “Die antijüdische Aktion zu begreifen, fällt dem Ausland schwer, denn es hat diese Judenüberschwemmung eben nicht am eigenen Leib verspürt. Das Faktum besteht, dass unsere Position in der Welt darunter gelitten hat und dass die Folgen sich schon zeigen und in politische und andere Münze umsetzen.” Leser Posth fragt zu Recht: “Wer hat Ernst von Weizsäcker zu dieser Aussage wenige Tage nach der Machtergreifung Hitlers gezwungen?”

[8] Auch hier fand der Präsident Zustimmung: Am 22. Mai 1988 zum Beispiel sendete der NDR ein beim Süddeutschen Rundfunk produziertes Portrait Richard von Weizsäckers, in dem es heisst, Ernst von Weizsäcker habe “nicht von aussen, sondern im Rahmen des Systems versucht, Unheil zu verhüten.”

[9] Hans-Jürgen Döscher, “Verschworene Gesellschaft”, Berlin 1995, S. 285.

[10] Just das behauptet Martin Wein a.a.O. S. 307 ff: “Es ist nicht zu widerlegen, dass Weizsäcker die Verschleppung der 6 000 Juden aus Compiègne nach Auschwitz als ‘Verlegung von einem französischen Lager in ein deutsches’ ansah, ja sogar als Umwandlung von Todeskandidaten in Zwangsarbeiter, zumal das RSHA ‘arbeitsfähige Juden nicht über 55 Jahre ‘ angefordert hatte … Auch über den Ablauf der Wannsee-Konferenz unterrichtete der Leiter der Abteilung Deutschland seinen Vorgesetzten nicht, obwohl Heydrich immerhin die eigenen Kompetenzen, ein offizielles Ausrottungskonzept von der tödlichen Zwangsarbeit bis zur ‘Sonderbehandlung’ etwa überlebender Juden, die Errichtung eines ‘Vorzugslagers’ in Theresienstadt und mögliche Regelungen für arisch-jüdische Mischlinge dargelegt hatte. Der Staatssekretär erfuhr davon erst fünf Monate später, am 1.. Juni 1942, durch ein Resümee Franz Rademachers, des AA-Judenreferenten.” Thomas Lau in Volker Reinhardt (Hg.), “Deutsche Familien – Historische Portraits von Bismarck bis Weizsäcker”, München 2005, S. 320 formuliert es andersherum: “Sein (Ernst v. Weizsäckers) Unterstaatsekretär Luther, ein überzeugter Nationalsozialist, umging seinen widerstrebenden Vorgesetzten dabei, so weit dies möglich war. Bei Schlüsselentscheidungen wurde der Staatssekkretär allerdings durchaus informiert. Dass er beispielsweise über die Wannseekonferenz unterrichtet worden war, bestätigt sein Unterstaatssekretär in einer Notiz vom 21. August 1942”. Wenn man nur die Aussage des Weizsäcker-Vertrauten, des Gesandten Albrecht von Kessel bei Döscher, Anm. 9, bedenkt, seit 1941 hätten alle höheren Bematen des AA von der planmässigen Ausrottung der Juden gewusst, so können die Darstellungen von Wein und Lau nur als Schutzbehauptungen gewertet werden.

[11] vgl. hierzu Hans-Jürgen Döscher, “Das Auswärtige Amt im Dritten Reich”, S. 224ff und Martin Wein a.a.O., S. 303ff.

[12] “Das Urteil im Wilhelmstrassenprozess”, Schwäbisch Gmünd 1050, S. 276.

[13] ebenda, S. 322.

[14] ebenda, S. 94.

[15] Richard von Weizsäcker, “Von Deutschland aus”, Berlin 1985, S. 19.

[16] Das fragten sich auch etliche Leser, die der FAZ Briefe schrieben, z.B. FAZ vom 21.3.2005: Horst Bonnier meint, das habe doch in der Rede vom 8.Mai 1985 etwas anders geklungen – “Wenn sich damals jeand informieren konnte, dann wares nicht der kleine Mann oder der Frontsoldat, sondern der höhere Offizier in einem Stab hinter der Front.” Und Graf Thun schreibt: “Ebenso erstaunt die Bemerkung, Weizsäckers Vater habe 1943 nichts von Auschwitz gewusst. Wenn man sich vor Augen hält, dass die Berichte der Einsatzgruppen mit den Zahlen der Ermorderten auch im Auswärtigen Amt einliefen und dass weiterhin Unterstaatssekretär Luther einer der Teilnehmer der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 gewesen ist, so ist es kaum glaubhaft, dass ausgerechnet der Staatssekretär im Auswärtigen Amt von alldem nichts gewusst haben soll.” Am 22.3. sagt Leser Hartwig, , “Weizsäcker macht somit genau das, was er meiner Generation in seiner Rede vom 8. Mai 1985 vorgeworfen hat, nämlich zu sagen: ‘Ich habe von den Verbrechen nichts gewusst’.” Am 23.3. und 30.3.folgen zwei weitere , zum Teil wütende Briefe, und am 22. April konnte man sogar einen Leserbrief von Richard von Weizsäcker selbst lesen. Dort heisst es dann: “Jeder hatte seine eigene Entscheidung zu treffen. Dafür gibt es im Amt Beispiele in den verschiedensten Richtungen. Ein kleiner Kreis vertrauter Kollegen, zu denen die Brüder Kordt, Albrecht Kessel, Adam Trott und andere gehörten, versuchte unter verantwortlicher Anleitung Weizsäckers im streng verborgenen das Menschenmögliche zu tun, um ausländische Regierungen, vor allem die britische, mit allem Nachdruck zu alarmieren. Am Widerstand durch direkte Attentatspläne gegen Hitler nahm Weizsäcker nicht teil, aber zentral am konspirativen Widerstand gegen die Hitlersche Kriegspolitik, auch mit der damit verbundenen schweren Belastung. im Amt geblieben zu sein.” Dagegen liefen nun die Söhne der Widerständler Heinrich von Trott zu Solz und Jan von Haeften in ihrem gemeinsamen FAZ-Leserbrief vom 25.5.2005 Sturm: “Es muss jedoch der Behauptung entschieden widersprochen werden, Adam von Trott sei ‘unter verantwortlicher Anleitung’ Ernst von Weizsäckers konspirativ tätig gewesen. Denn es handelte sich allenfalls um eine stille Duldung seiner unabhängigen Aktivität durch den Staatssekretär. Noch weniger berechtigt ist es, diesystematische Arbei für ienen Regimesturz und die Neuordnung nach dem Krieg (Kreisauer Kreis), die Amtsangehörige wie Hans Bernd von Haeften und Adam von Trott um den Preis ihres bewusst eingesetzten Lebens wagten, auf eine Teilnahme an ‘direkte(n) Attentatspläne(n) gegen Hitler’ zu reduzieren – während das diplomatische Wirken des Staatssekretärs zu ‘zentralem konspirativen Widerstand’ erklärt wird.. Richard von Weizsäckers berühmte Rede vom 8. Mai 1985 endete mit dem Satz: ‘Schauen wir …, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.’ Auch beim Verhältnis von Mitarbeit und Widerstand sollte man um der Gerechtigkeit willen genau hinsehen.”

[17] “Die Deutschen bleiben ein gefährliches Volk – Warum man nach dem Zusammenbruch des ‘Dritten Reiches’ in die Politik ging und was heute fehlt: Helmut Schmidt erinnert sich”, FAZ 9.4.2005, S. 36.

[18] “stern” Nr. 25/91, S. 24 – 35.

[19] Otto Köhler, “Für Führer und Vaterland”, konkret 8/91, S. 10 – 13.

[20] “Das zweite Gesicht des Krieges”, “Wochenpost” Nr. 28/1991 vom 3.7.1991, S. 18 – 19.

[21] Wolfgang Paul, “Das Potsdamer Infanterieregiment 9”, Osnabrück 1985.

[22] Otto Köhler a.a.O.

[23] Otto Köhler a.a.O.

[24] vgl. Ulrich Völklein, “Die Weizsäckers, Macht und Moral – Porträt einer deutschen Familie, München 2004, S.307 – 322 und Otto Köhler a.a.O..

[25] Weizsäcker “Vier Zeiten – Erinnerungen”, Berlin 1997.

[26] Völklein a.a.O., S. 345.

[27] Ernst Kindhauser, “Ein wohltemperiertes Stück Trauerarbeit – Wird Richard von Weizsäcker in seinen Erinnerungen den selbstgestellten Ansprüchen gerecht?”, “Weltwoche” 25.9.1997, S. 15 – 17.

[28] Hannes Heer, Klaus Naumann Hg., “Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht”, Hamburg 1995.

[29] Marion Gräfin Dönhoff/Richard von Weizsäcker, “Wider die Selbstgerechtigkeit der Nachgeborenen – Wehrmachtverbrechen und die Männer des 20. Juli”, DIE ZEIT vom 8.3.1996, S. 63. In seinen Erinnerungen (Anm.18) schrieb Weuzsäcker S. 83: “Mit Grausamkeiten anderer Art als die. die ich bei meinem Regiment in der vorderen Linie erlebte, befasst sich die Wanderausstellung “Vernichtungskrieg”, die das Institut für Sozialforschung 1995 auf die Reise geschickt hat”. Und S. 85 heisst es: “In der vorderen Linie aber haben wir Kriegsverbrechen unter wehrhaften Soldaten kaum erlebt … Einmal kam ein Befehl von oben, wir sollten keine Gefangenen machen. Ich erinnere mich lebhaft an unsere Empörung über diesen Quasi-Mordbefehl, den wir vom Regimentsstab aus – ich war damals Regimentsadjutant – nicht weitergegeben haben und der, soweit mein Überblick reichte, bei uns auch nirgends angewendet wurde.”

[30] Christian Gerlach, “Kalkulierte Morde – Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weissrussland 1941 bis 1944”, Hamburg 1999.

[31] Gerlach, “Kalkulierte Morde” a.a.O., S. 1112 f.

[32] Otto Köhler a.a.O., S. 12.

[33] “Spiegel” Nr. 31 und 32/1992.

[34] “Spiegel” Nr.48/1992, S. 64 – 67.

[35] Richard von Weizsäcker, “Von Deutschland aus”, a.a.O.

[36] Merkur 39 (1985), S. 373 – 385; auch in: Martin Broszat, “Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte”, hg. v. Hermann Graml und Klaus-Dieter Henke, München 1986, S. 159 ff, 165.

[37] “Jenseits des Vorurteils”, “Eingriffe 1, Jahrbuch für gesellschaftliche Umtriebe”, Hg. Klaus Bittermann, in der Edition TIAMAT, Berlin 1988.

[38] “Deutsche Schattenspiele” Hamburg 1988, S. 177

[39] “konkret” 3/90, S. 28ff.

[40] Mathias Schreiber, “Der Bundesvater / Richard von Weizsäcker in Potsdam (ZDF)”, FAZ 19.5.1990..

[41] FAZ 28.1.1994, Notizbuch Johannes Gross, “Nachsicht mit dem Laster”, FAZ-Magazin S. 10.

[42] FAZ 11.9.1996, S. 21, “Der Axel Springer Verlag erlebt heute einen neuen Aufschwung – Festakt zum fünfzigjährigen Jubiläum in Hamburg / Weizsäcker erinnert an die Bedeutung des Journalismus”.

[43] Rowohlt Berlin, 240 Seiten. Gebunden € 19.90 (D)/sFr. 34,90.