Dirk Moses

 

Völkermord oder zivilisatorische Mission? In Australien ist eine "Genozid-Debatte" um die Siedlungsgeschichte des Landes entbrannt

Inhalt

     Kaum Augenzeugen
     Stellungnahme der Historiker


Seit dem Jahr 2000 tobt in Australien ein Historikerstreit. Der freie Autor Keith Windschuttle hat der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte der Aborigines vorgeworfen, sie würde das Ausmaß der von den britischen Siedlern an den Aborigines verübten Gewalt maßlos übertreiben. Die entsprechenden Historiker seien Teil einer postkolonialen Elite, die den Australiern beibringen würde, die nationale Vergangenheit zu hassen, statt sie zu lieben. Windschuttles Angriffe wurden von der Presse ebenso aufgegriffen wie von der konservativen Regierung, die gleich eine Untersuchung im neuen Nationalen Museum von Australien in Canberra durchführen ließ - um zu prüfen, ob es die Vergangenheit in zu düsteren Farben zeichne. 

Die Belastung durch Verbrechen, begangen von vorangehenden Generationen, ist keine deutsche Besonderheit. Damit konfrontiert sind auch Länder, die sich auf der sicheren Seite wähnen, weil sie in zwei Weltkriegen die Demokratie gegen deutschen Imperialismus verteidigt haben. Länder wie Australien oder die USA haben zwar keinen Holocaust begangen, aber sie sind Siedlergesellschaften, deren Existenz auf Enteignung und Ausrottung vieler indigener Völker gründet. Anders als die Überlebenden des Holocaust, die meist nicht nach Deutschland zurück kehrten, leben die verbliebenen indigenen Völker weiterhin unter den Siedlern - eine stetige Erinnerung daran, dass ihnen einst das Land gehörte. Das schlechte Gewissen der Siedlergesellschaft wird noch dadurch verstärkt, dass viele von ihnen im Elend leben. 

Infolgedessen wird die "Aborigines-Frage" in Australien weiter gestellt, und sie hat politische Implikationen. Sollen indigene Völker ihre Kultur aufgeben und leben wie die dominierende, im wesentlichen aus Europa stammende Siedlerbevölkerung? Oder sollen sie in weitgehender Autonomie und Selbstverwaltung leben, wie manche Linke meinen? Die Vertreter der Aborigines selbst sind sich uneinig. Manche ihrer Wortführer, wie Noel Person, plädieren für einen aufgeklärten Paternalismus, um Alkoholismus und Kindesmissbrauch zu bekämpfen.

Kaum Augenzeugen

Für die Legitimation solcher Optionen spielt die historische Erinnerung eine zentrale Rolle. Wenn den Australiern Stolz auf ihre Siedler-Traditionen vermittelt wird, müssten die Aborigines dankbar sein, dass sie an dieser Modernität teilhaben dürfen. Doch wenn diese Traditionen auch beschämende Aspekte haben, weil sie zur Ausrottung beitrugen - warum sollen die Aborigines sich ihnen anpassen? Die Debatte begann 1997, als eine Regierungs-Kommission den Report Bringing them home veröffentlichte. Darin ging es um die gewaltsame Trennung von Mischlingskindern und ihren Eltern, um erstere vor der Aborigines-Kultur zu "retten". Die umstrittenste Schlussfolgerung des Reports bestand darin, dass Australien Schuld an einem Genozid war: Indem man ihnen die Möglichkeit zur Selbstreproduktion nahm, seien Aborigines-Gemeinschaften systematisch zerstört worden. 

Konservative Politiker und Publizisten reagierten empört. Es sei darum gegangen, die Lebenschancen der Kinder zu verbessern. Premierminister John Howard verweigerte eine Entschuldigung bei den "gestohlenen Generationen" der Aborigines. Zu den Strategien der Konservativen gehörte es auch, den Wahrheitsgehalt der zugrunde liegenden Erzählungen der Aborigines in Zweifel zu ziehen. Diese Strategie spielt auch in der heutigen zweiten Runde der "Genozid-Debatte" eine zentrale Rolle, in der es um Siedlergewalt zwischen den 1790er und den 1920er Jahren geht. Windschuttle zufolge lassen sich die Berichte über Massaker nicht verifizieren. Es gebe kaum Augenzeugen, der Großteil der Quellen gründe auf Gerüchten, Hörensagen und Spekulation. Linke weiße Historiker hätten dies aufgebauscht, um ihre Mitbürger moralisch anzuklagen. 

Windschuttle hat diese Angriffe in einem Buch über die Insel Tasmanien fortgesetzt: The Fabrication of Aboriginal History erschien im Dezember 2002 (Macleay Press) und löste eine massive Kontroverse aus. Windschuttle warf führenden Historikern wie Henry Reynolds und Lyndall Ryan vor, in ihren Büchern über Tasmanien unsauber mit den Quellen umgegangen zu sein. Ihren Arbeiten widmet er ganze Kapitel, in denen er ihre Fußnoten diskutiert und alternative Deutungen vorschlägt. So seien etwa die Todeszahlen weitaus geringer gewesen: Nicht viel mehr als 100 statt der behaupteten 400 bis 1150 Aborigines seien ums Leben gekommen. Aborigines hätten die Gewalt durch Plünderungen provoziert, sie seien keine Widerstandskämpfer gewesen und hätten keinen Begriff von Landeigentum gehabt. 

Die Kontroverse hat, ähnlich wie der deutsche "Historikerstreit", ein breites Echo in den Medien gefunden. Doch anders als im deutschen Fall, wo die akademischen Historiker sich untereinander stritten, spielen sie in Australien derzeit nur eine Nebenrolle. Die "Geschichtskrieger" (Stuart Macintyre / Anna Clark, The History Wars, Melbourne University Publishing 2003) um Windschuttle haben für die akademischen Historiker, die sie als Nestbeschmutzer sehen, nur Verachtung übrig.

Stellungnahme der Historiker

Um diesem neuen, mittlerweile sehr populären Revisionismus entgegenzutreten, hat der Politologe Robert Manne 18 Historiker um Stellungnahmen gebeten; das Buch Whitewash (Black Inc.) ist im September letzten Jahres erschienen. Es enthält differenzierte Auseinandersetzungen mit den Quellen und Schlussfolgerungen Windschuttles, und kommt zu dem Ergebnis, dass er nur einen Teil der Quellen nutzte und Zeugnisse der Aborigines ignorierte. Einer der Beiträge arbeitet heraus, dass Windschuttles strenges Kriterium für Quellen - nur direkte Augenzeugenberichte, bevorzugt aufgenommen von Beamten - genau das Kriterium derer ist, die japanische Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg, den Völkermord an den Armeniern oder die Existenz der Gaskammern in Auschwitz leugnen. 

Die Autoren sind sich einig, dass es schwer ist, die genaue Todesrate zu bestimmen. Doch war sie mit Sicherheit höher, als Windschuttle behauptet. Selbst seinen niedrigen Schätzungen zufolge wurden in den 1820er und 1830er Jahren zwölf Prozent der Einheimischen umgebracht. Die Übriggebliebenen wurden auf eine benachbarte Insel gebracht, um die Besiedlung nicht zu stören; die letzten Nicht-Mischlinge starben 1876. Für dieses schreckliche Schicksal hat Windschuttle kein Bedauern übrig - es war der Preis für den zivilisatorischen Fortschritt. 

Ob die gründliche Auseinandersetzung mit Windschuttle auch in der Öffentlichkeit Gehör finden wird, ist fraglich. In den Augen des derzeit in Australien dominierenden rechtskonservativ-populistischen Mainstreams handelt es sich nur um einen weiteren Versuch der elitären Linken, einen ihrer Kritiker zum Schweigen zu bringen. 

Aus dem Englischen von Ulrich Speck.


Dirk Moses lehrt Geschichte an der Universität Sydney. In Kürze erscheint das von ihm herausgegebene Buch "Genocide and Settler Society. Frontier Violence and Stolen Aboriginal Children in Australian History" (Berghahn Books, New York). 

erstmals erschienen in: Frankfurter Rundschau, 10.2.2004