Ein großer Intellektueller, Historiker der europäischen Zeitgeschichte, Linkssozialist

Enzo Collotti starb in der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober des vergangenen Jahrs [2021]. Er wurde am 15. August 1929 in Messina geboren und verbrachte seine Kindheit in Rom, Cagliari und seiner Heimatstadt, bevor er 1941 nach Triest zog, wo sein Vater 1939 eine Lehrtätigkeit an der Universität aufgenommen hatte. Dort sollte er an einem Ort erzogen werden, der alle Bruchlinien Europas aufwies, die durch das bewusst subversive Vorgehen der europäischen Faschismen vertieft wurden und dann im Zweiten Weltkrieg verhängnisvoll verpufften.

Wie Collotti selbst erklärte, wurde er nicht aus reiner intellektueller Neugierde Geschichtsstudent, sondern aus dieser Lebenserfahrung heraus: „Ich gehöre zu der Generation, die mehr oder weniger ein Jahr lang den Blutsturz Europas miterlebt und in diesem Blutsturz gelernt hat, das Schicksal der Menschheit und Europas zu hinterfragen. Als Kind kannte ich die jüdischen Flüchtlinge, die vor der Verfolgung durch die Nazis in Italien Gastfreundschaft suchten; ich sah die Flüchtlinge, die zurückkehrten, um auszuwandern, und die vom faschistischen Italien vertrieben wurden. Ich habe den Krieg und die Besetzung durch die Nazis in einem Grenzland erlebt,  an einem Kreuzungspunkt zwischen drei Zivilisationen, der lateinischen, der deutschen und der slawischen, der von den Faschisten und den Nazis in einen Ort des rücksichtslosen Missbrauchs verwandelt wurde. Meine Forschungen sind nicht aus Büchern entstanden, sondern aus dem Konflikt, den die Entdeckung einer großen Kultur wie der deutschen und ihre Unvereinbarkeit mit einer Realität, die so weit von den Mythen und Idealen dieser großen Kultur entfernt ist, in mir ausgelöst hat. Mein Ziel war der Wunsch, durch die Antinomien eines Landes einen der größten Zivilisationskonflikte unserer Zeit zu verstehen.“  So Enzo Collotti bei der Verleihung des Montecchio-Preises 1993.

Genau aus diesem Grund sind die Zuschreibungen, die seit seinem Tod folgten: "Historiker Deutschlands / der Deutschen", Historiker des Faschismus / des Nationalsozialismus", „Historiker der Resistenza  / des Widerstands", allesamt reale Aspekte der vielschichtigen Tätigkeit des Studiums, der Forschung, der Weitervermittlung und der Fähigkeit, öffentlich zu intervenieren. Die unvollständige Bibliographie seiner Schriften von 1952 bis 2009 umfasst 50 Seiten seiner Autobiographie:  Enzo Collotti, Impegno civile e passione critica (Ziviles Engagement und kritische Leidenschaft), herausgegeben von Mariuccia Salvati, Rom, Viella, 2010, S. 230 bis S. 279). Aber diese Zuschreibungen erschienen all jenen, die ihn näher kannten, mich eingeschlossen, eher als reduktionistisch, wenn nicht gar, offen gesagt, als exzentrisch.

Enzo Collotti war in erster Linie ein Historiker Europas im 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt seines Studienprogramms stand die Notwendigkeit, zu verstehen, warum die Arbeiterbewegung nicht in der Lage war, sich der Ausbreitung des faschistischen politischen Modells auf dem gesamten Kontinent entgegenzustellen und zu widersetzen.  Dies konnte man nur verstehen, wenn man sich dem Problem durch eingehende Kenntnisse näherte: "Ich war immer davon überzeugt, dass es bestimmte Wissensstufen gibt, die nur durch Spezialisierung erreicht werden können (...) Auf einer bestimmten Stufe erfordert dies Spezialisierung, Anstrengung und Opfer) (...) Meine Absicht war es, die Gefahr zu vermeiden, in Dilettantismus zu verfallen"  (Impegno civile e passione critica, S. 136-138).

Es ist kein Zufall, dass Enzo Collottis erstes richtiges Buch, das 1959 erschien, den Titel „Die deutsche Sozialdemokratie - Von der Niederlage zur wirtschaftlichen Wiedergeburt - - Vom Problem der Wiedervereinigung zum Problem der Wiederbewaffnung - Die Realität des heutigen Deutschlands aus der Sicht der Sozialdemokratie“ trug. Obwohl der Band relativ kurz ist, zeigt er die Aufmerksamkeit, die dem Universum der sozialistischen Linken gewidmet wird. Das ist einer Welt, die weder der bolschewistisch-leninistisch-sowjetischen Matrix des Kommunismus noch der reinen Umverteilungslogik der sozialdemokratischen Rechten der Nachkriegszeit zuzuordnen ist. Sie bringt meines Erachtens einen entscheidenden Schwerpunkt von Collottis analytischer und interpretativer Sichtweise zum Ausdruck. Collottis Analysen und Interpretationen fanden ihren Niederschlag in zahlreichen Texten unterschiedlicher Art, die sowohl der österreichisch-ungarischen und österreichischen Arbeiterbewegung und ihrer besonderen theoretischen Ausarbeitung, dem "Austromarxismus", als auch den verschiedenen Strömungen der deutschen sozialistischen Linken gewidmet waren.  Diese Studien  reichten bis zur Herausgabe des monumentalen Sammelwerks L'Internazionale operaia e socialista tra le due guerre (Die Sozialistische Arbeiterinternationaler zwischen den beiden Weltkriegen), das 1985 als Band 23 der Jahrbücher der Feltrinelli-Stiftung in Mailand erschien. Friedrich Adler, ein führendes Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), war zwischen 1923, dem Gründungsjahr der SAI, und 1940, dem Jahr ihrer Auflösung, deren Sekretär. Wie auf der Rückseite des Umschlags angegeben, wurde der Band größtenteils von Collottis eigenem Anliegen geprägt: „Dieser Band versammelt zum ersten Mal eine Reihe von Aufsätzen über die lange vernachlässigte Geschichte der Sozialistischen Arbeiterinternationale zwischen den beiden Weltkriegen. Das Hauptziel der Arbeit ist es, einen ersten Beitrag zur Rekonstruktion der SAI als politischem Organismus und Organisationsapparat zu leisten, der in der internationalen Arbeiterbewegung parallel oder sogar in Konkurrenz beziehungsweise im Konflikt mit der Kommunistischen Internationale existierte und arbeitete. Die in diesem Band versammelten Beiträge zeigen jedoch, dass die Reichweite des Einflusses der SAI nicht nur im Kontext ihrer Organisationsstrukturen gemessen werden kann, sondern durch die vielfältigen politischen und intellektuellen Erfahrungen, die sich in den verschiedenen nationalen Sphären abspielen, in denen erstmals sozialdemokratische Parteien zur Übernahme von Regierungsverantwortung aufgefordert wurden. In diesem Sinn zielt das Buch darauf ab, die Spannung zwischen Reform und Revolution widerzuspiegeln, die einen Großteil des europäischen Sozialismus in der Zwischenkriegszeit kennzeichnete. Auf diese Weise wird der theoretische und intellektuelle Aufruhr deutlich, in den die sozialistische Tradition (unabhängig von der Parteizugehörigkeit) durch das Aufkommen des Bolschewismus, das neuartige Phänomen  des Faschismus und die allgemeine Notwendigkeit geraten ist, die Demokratie durch eine erneuerte Konzeption des wiederkehrenden Verhältnisses zwischen Demokratie und Sozialismus angesichts der großen Probleme bei der Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft und nicht zuletzt angesichts der Auswirkungen der großen Krise wiederzubeleben.“

Ein so klares Projekt ist meiner Meinung nach auch heute noch - und vielleicht sogar noch mehr als damals - von großer Bedeutung.

Enzo Collotti war zwar kein Historiker der Arbeiterbewegung im engeren Sinn. Man kann aber sagen, dass seine Funktion, der italienischen Kultur und der gebildeten Öffentlichkeit Aspekte der Geschichte und der Gegenwart dieser Bewegung nahe zu bringen, die in Bezug auf die Geographie und die theoretische Ausarbeitung im Abseits stand, von grundlegender Bedeutung war. Darüber hinaus erklärte er selbst in Bezug auf seine eigene Jugend: "Ich fühlte ich mich von Natur aus sozialistisch, aber ich fühlte mich nicht zur PCI hingezogen, die mir eine geschlossene Kirche zu sein schien, und noch weniger zur PSI, trotz der Faszination von Nenni. Ich fühlte, dass ich mich in diesem Bereich bewegen musste, aber in keiner der beiden bestehenden Parteien. Ich hatte schon einiges von Léon  Blum und Otto Bauer gelesen, in diesem Bereich auf europäischer Ebene fühlte ich mich wohl" (Impegno civile e passione critica, S. 44).

Wie definierte sich Enzo Collotti also intellektuell und kulturell? Er war Linkssozialist (ein deutscher Begriff, der sich kaum ins Italienische übersetzen lässt: Ihn als "linkssozialistisch" wiederzugeben, verarmt die ursprüngliche semantische Badbreite erheblich). Er gehörte  einem politischen und intellektuellen Spektrum an, das sich im Wesentlichen von dem kommunistischen uund drittinternationalistisch geprägten Weg unterscheidet. Hinzu kam, wie er mir gegenüber mehrfach äußerte, die ganz realpolitische Überlegung, dass im Nachkriegsitalien kein Platz für eine nichtkommunistische Linke war, die sich nicht, wenn auch kritisch, auf das bezog, was die Kommunistische Partei ausdrückte und vertrat. Beide Aspekte machten daraus eine Art Wirrwarr, das sowohl im Inland als auch im Ausland schwer zu fassen war. Während ein großer Teil der damaligen westdeutschen Intelligenzija nicht umhin kam, Collotti als "Kommunisten" einzustufen, und das Gleiche auf der italienischen Seite geschah, verfielen in Italien die Intellektuellen, die im eigentlichen Sinne Kommunisten waren, oft in den gleichen und entgegengesetzten Irrtum. Diese Position brachte ihn in die Nähe eines anderen großen Intellektuellen, der sich ebenfalls sehr für die deutsche Kultur interessierte, sich aber auf den politischen Bereich konzentriert hatte: Lelio Basso.

Erlauben Sie mir die feste Überzeugung, dass die intellektuelle und politische Linke heute nur von diesen Bezügen aus neu beginnen kann.

 

Brunello Mantelli