Rüdiger Hachtmann: Historische Analyse und politische Intervention (27.05.2022)

Womit beginnen, wenn eine politisch wie wissenschaftlich so vielseitige, so aktive und so produktive Persönlichkeit wie Karl Heinz Roth gewürdigt werden soll? Am besten mit persönlichen Bemerkungen. Ich habe Karlo, wie er von Genoss*innen und Freund*innen genannt wird, 1998 in Bremen kennengelernt, an der dortigen Universität. Wir waren, so meine Erinnerung, die letzten, die spätabends die Universität verlassen haben – und kamen nicht zuletzt auf diese Weise miteinander ins Gespräch. Vor und nach meinen Lehrveranstaltungen saß ich im Archiv der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, und natürlich haben wir auch dort regelmäßig miteinander diskutiert. Seitdem ist unser Kontakt nicht abgerissen. Das lag auch daran, dass sich unsere Forschungsgebiete bis heute überlappen.

Die Geschichte der seit den 1970er-Jahren bekanntlich breit und intensiv diskutierten «kampflosen Kapitulation» der Arbeiterbewegung, ihrer systematischen Zerschlagung durch die Nazis und der Aufbau der rassistisch-sozialintegrativen und gleichzeitig überaus repressiven Deutschen Arbeitsfront (DAF) war so ein gemeinsames Forschungsfeld.

Bekannt war mir Karlo «schriftlich» natürlich schon vorher. Eindrucksvoll und stimulierend war sein im Rotbuch Verlag 1984 erstmals veröffentlichtes, gemeinsam mit Götz Aly verfasstes schmales Buch mit dem Titel Restlose Erfassung. Dort ging es (so der Untertitel) um «Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus», ein bis heute nicht ausgeforschtes, zum Verständnis des NS-Regimes zentrales Feld. Karlos erste Publikation als Historiker war 1974 (die er zusammen mit seiner Lebensgefährtin Angelika Ebbinghaus verfasste) zur «Anderen Arbeiterbewegung» – angestoßen durch Arbeiten des britischen NS-Historikers Tim Mason (1940-1990) und dessen sozialhistorische Beobachtungen, die dieser Mason zu der These verdichtet hatte, es habe während des Nazi-Regimes einen von den (ins Exil und den Untergrund getriebenen) traditionellen Arbeiterorganisationen nicht initiierten und gelenkten «Klassenkampf von unten», einen «unorganisierten Widerstand» breiter Schichten der Arbeiterklasse gegeben. Wenn man vor allem von einer relativen kurzen Streikbewegung 1935/36 absieht, hat sich diese These nicht bestätigt – leider. Die Fragen nach dem ‚Warum’ hat Karlo mit mehreren Arbeiten zum Kontroll- und Repressionsapparat der Deutschen Arbeitsfront aufgegriffen, z.B. in einer eindrucksvollen Quellenedition aus dem Jahre 2000 über «Facetten des Terrors. Der Geheimdienst der ‚Deutschen Arbeitsfront’ und die Zerstörung der Arbeiterbewegung 1933-1938». Der DAF und deren Arbeitswissenschaftlichem Institut hatte sich Karlo – doppelt promoviert, nämlich in Geschichte wie in Medizin – bereits 1993 in seiner gewichtigen historischen Dissertation zu «Intelligenz und Sozialpolitik im ‚Dritten Reich’» gewidmet.

Alle seine Arbeiten zum Thema aufzuzählen, würde einen Geburtstagsgruß bei weitem sprengen. Verwiesen sei an dieser Stelle nur auf einen weiteren, wie ich finde bahnbrechenden, hundert Seiten starken Aufsatz in dem von Werner Röhr 1994 herausgegebenen Aufsatzband «Europa unter dem Hakenkreuz»: «Die Sozialpolitik des ‚europäischen Großraum’ im Spannungsfeld von Okkupation und Kollaboration 1938-1945». Bahnbrechend deshalb, weil der Text den Krieg und das gesamte NS-beherrschte Europa behandelte, dabei besonders die aggressiv-imperialistische Rolle der DAF hervorhob – und auf Forschungsfelder verwies, die bis heute ebenfalls weitgehend unbeackert geblieben sind. In den Kontext seiner NS-Forschungen gehört auch «Das Daimler-Benz-Buch» von 1987 über den «Weg zum guten Stern des ‚Dritten Reiches’». Von Karlo mitverfasst und -herausgegeben, setzte dieses wichtige Werk einen Kontrapunkt gegen die üblichen Unternehmens-Apologien und eröffnete eine kritische Auseinandersetzung mit deutschen Konzernen im NS-System. Dass sich inzwischen wieder eine exkulpatorische Auftragsforschung zum NS und in der Unternehmensgeschichte regelrechte ‚Fabriken’ etabliert haben, die sich die ‚Entnazifizierung’ einschlägiger Unternehmen auf die Fahnen schrieben, tut diesem Verdienst keinen Abbruch.

Was uns beide neben dem ausgeprägten Interesse für die NS-Geschichte und den vielen thematischen Berührungen unserer Projekte außerdem verband, waren freundschaftliche Beziehungen zu ehemals prominenten DDR-Historikern, die ab 1990 von den meisten West-Kollegen «links» liegengelassen wurden, etwa zu Kurt Pätzold und vor allem zu Dietrich Eichholtz (beide 2016 verstorben). Wie vermutlich auch Karlo hatte ich zum SED-Staat (der mir bis 1988 den Besuch seiner Archive verweigerte) keinen Kontakt. Dietrich habe ich erst 1991, in Los Angeles, kennengelernt, war allerdings schon lange vorher beeindruckt von den ersten beiden Bänden seiner (bis heute unübertroffenen) «Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft». Für den dann 1996 erschienenen dritten Band der «Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft» hat Karlo einen ebenfalls mehr als hundertseitigen Gastbeitrag verfasst zu den «Wirtschaftlichen Vorbereitungen auf das Kriegsende und Nachkriegsplanungen». Über seine Rolle als Historiker ließe sich seitenlang weiter berichten, auch etwa über seine Bedeutung für die von ihm maßgeblich mitinitiierte, zunächst, ab 1986, unter dem Titel «1999» bekannt gewordene, einflussreiche «Zeitschrift zur Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts», die später, von 2003 bis 2007, den Titel Sozial.Geschichte trug und heute als Sozial.Geschichte-Online herausgegeben wird und im Internet frei lesbar ist.

Über Karlos politische Aktivitäten im SDS, als «68er» und in der militanten, antagonistischen Linken der 1970er Jahre müssen andere berichten. Ich kenne sie nur vom Hörensagen. Was mich bei ihm aber immer schon beeindruckt hat, war die Verknüpfung von historischen Projekten (und Erkenntnisinteresse) sowie politischer Intervention. Diese Verknüpfung prägte sein ganzes Leben. Auch als Mediziner verband er beides stets miteinander, etwa als er (zusammen mit Gerhard Baader und anderen) den ersten Gesundheitstag im Mai 1980 in Berlin als kritische Alternativveranstaltung zum parallel tagenden Deutschen Ärztetag mitinitiierte und von 1980 bis 1997 mit anderen eine Hausarztpraxis im ‚Problem-Kiez’ St. Pauli in Hamburg betrieb. So wie der Gesundheitstag unter dem Motto «Medizin im Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene Tradition?» stand, hatte Karlo schon vorher in seiner medizinischen Dissertation zu «Filmpropaganda und Vernichtung der Geisteskranken und Behinderten im ‚Dritten Reich’» die Verflechtung von NS-System und Medizin thematisiert.

Die Verbindung von historischen Projekten und politischer Intervention kennzeichnet auch seine jüngeren Publikationen. 2018 veröffentlichte Karlo (zusammen mit Hartmut Rübner) den Band «Reparationsschuld: Hypotheken der Deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland und Europa». Der politische Hintergrund dieses Bandes dürfte allen noch präsent sein: der verzweifelte Versuch der Regierung der SYRIZA, eine Politik gegen das Diktat der EU-Institutionen zu machen –, wie der griechischen Linken dann das Rückgrat gebrochen wurde, maßgeblich durch ein ‚Deutschland’, das zu seiner Ausplünderung des NS-besetzten Europas nicht stehen wollte. Ein Lehrstück zudem über die begrenzten Spielräume der Linken in einer neoliberal verfassten «Europäischen Union» (eine euphemistische, unschuldig wirkende Bezeichnung für die neoliberalen Herrschaftsstrukturen auf ‚unserem’ Kontinent).

Mehr als bewundernswert ist Karlos bis heute anhaltende wissenschaftliche Produktivität. Wie gut es ihm gelingt, historische Analyse und politisch-gesellschaftliche Intervention miteinander zu verknüpfen, hat er ganz aktuell mit seinem Buch über «Blinde Passagiere. Die Coronakrise und die Folgen» unter Beweis gestellt. Prädestiniert war Karlo für ein solches Werk durch seine Doppelqualifikation als Historiker und Mediziner ohnehin. Dieses Buch ist nicht, wie man angesichts der anhaltenden Inflation an ‚Corona-Titeln’ vermuten könnte, mit heißer Nadel gestrickt. Es ist vielmehr sehr präzise, empirisch(-historisch) und vor allem auch analytisch. Sicherlich das bislang beste Buch zum Thema Covid-19.

Historische Analyse und politische Intervention: Dazu gehört schließlich das von Karlo maßgeblich mitverfasste internationale «Manifest gegen den Krieg» von Mitte März 2022. In diesem Manifest wird der durch nichts zu rechtfertigende Überfall Russlands auf die Ukraine entschieden verurteilt, gleichzeitig aber betont, dass 1990/91 «die Integration des Nachfolgers des untergegangenen Sowjet-Imperiums in ein erweitertes Europa mit stabiler Friedensordnung und gegenseitigen Sicherheitsgarantien» versäumt und stattdessen die eigentlich funktionslos gewordene NATO in einem neuen Kalten Krieg «gegen die Russische Föderation in Stellung gebracht» wurde. Wir alle, heißt es in dem Manifest weiter, können in dem sich schon seit längerem abzeichnenden «katastrophalen Poker der imperialistischen Mächte nicht Partei sein». Anknüpfend an das berühmte Motto «Nie wieder Krieg!» - können und wollen wir «unsere Identität, unsere Orientierung an den sozialen und emanzipatorischen Kämpfen für Gleichheit und Selbstbestimmung nicht an die Logik des imperialistischen Kriegs und den Zynismus der Kriegshetzer auf allen Seiten abtreten. Wir wollen nicht später von unseren Kindern und Enkeln gefragt werden, warum wir nichts gegen die Ausweitung des Ukraine-Konflikts zu einem europäischen Großkrieg oder gar zu einem nuklearen Armageddon unternommen haben.»

Auch und gerade Historiker können sich nicht abseits stellen, wenn auf allen Seiten Hochrüstung und auf mittlere Sicht (neben einer immer schwerer abwendbaren ökologischen Katastrophe) ein atomares Inferno droht. Karlos politische und historische Interventionen gegen die vergangene und künftige Barbarei stehen hier beispielhaft. Was ich mir wünsche, ist, dass Karlo uns, der Linken im weiten Sinne des Wortes, mit seiner Produktivität und seinem entschiedenen Engagement noch lange erhalten bleibt.

In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zum heutigen 80. Geburtstag, lieber Karlo.

 


 

Hinweise zu weiteren Materialien (zusammengestellt von Bernd Hüttner)

Einen Überblick über Roths Arbeiten zu historischen Themen gibt die zu seinem 50. Geburtstag 1992 erschienene Publikation von Karsten Linne und Thomas Wohlleben (Hrsg.): Patient Geschichte. Für Karl Heinz Roth, Frankfurt/M. 1993. Frombeloff (Hg.): ... und es begann die Zeit der Autonomie. Politische Texte von Karl Heinz Roth, Berlin/Göttingen 1993 dokumentiert und diskutiert hingegen die politischen Texte aus den 1970er und 1980er Jahren. Liste der Publikationen von Karl Heinz Roth in der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Periodika «1999» und «Sozial.Geschichte» sind komplett digitalisiert auf dieser Seite zu finden.

Eine Literaturliste «Operaismus und Geschichtswissenschaft» mit bis 2004 erschienener Literatur findet sich hier auf der Seite der Rosa Luxemburg Stiftung, eine umfangreiche Materialsammlung Operaismus mit Stand 2017 hier bei labournet.de.

 


 

Link zum Artikel auf der Seite der Rosa-Luxemburg-Stiftung