Ein Freund ist gegangen – Nachruf auf Mathias Deichmann
Am 27. Oktober 2025 verstarb Mathias Deichmann nach monatelanger schwerer Krankheit. Diese Nachricht hat alle erschüttert, die in den vergangenen Jahrzehnten eng mit ihm verbunden waren. Sein Elan, seiner Vitalität und seine Begeisterungsfähigkeit waren ansteckend. Es gab aber auch Phasen, in denen er sich zurückzog und seine Freunde auf Distanz hielt. Dann wusste niemand, was in ihm vorging. Und wenn er sich dann wieder zurückmeldete, waren alle erleichtert. Die Lücken des Schweigens und vielleicht auch des Selbstzweifels festigten die Freundschaft nachhaltiger als alles andere.
Mathias Deichmann wurde im Juli 1943 in Homburg vor der Höhe geboren. Sein Vater, Hans Deichmann, war leitender Angestellter der I.G. Farben und zu dieser Zeit in Italien tätig. Seine Mutter Senta, geborene Vlielander Hein, hatte kurz vor der Heirat ihr Studium unterbrochen. Seit 1936 zog sie die Kinder in Oberursel und anschließend in Dornholzhausen, einem in der Nähe Frankfurts gelegenen Marktflecken, groß. Dort mieteten die Eltern 1938 ein kleines Anwesen. Es war gerade groß genug, um darauf eine Kuh zu halten und Maria Ricarda, Thomas, die früh verstorbene Josefa und den Nachzügler Mathias mit frischer Milch zu versorgen.
Als Mathias fünf Jahre alt war, emigrierte die Familie nach Italien. Der Vater übernahm die Leitung einer in Mailand ansässigen Importfirma für Farbstoffe und Chemikalien, die in den folgenden Jahren zu einem Großunternehmen expandierte. Parallel dazu war er in der Deutsch-Italienischen Handelskammer tätig und gestaltete den Wiederaufbau der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen mit. Sobald die Kinder groß genug waren, nahm Senta Deichmann ihr Studium wieder auf und schloss es mit einer agrarwissenschaftlichen Promotion ab. Ihre Kinder unterstützten sie bei den dafür erforderlichen Freilandversuchen.
In diesen Jahren lebte die Familie nördlich von Mailand in idyllischer Lage. Mathias wuchs mit seinen Geschwistern zuerst in Mascagno am Lago Maggiore und ab 1949 in Arosio auf, wo er eingeschult wurde. 1954 bezog die Familie die neu erbaute Casa Deichmann in Inverigo. Aber die Harmonie währte nicht lange. 1959/60 kam es zur Trennung zwischen den Eltern, die Kinder litten schrecklich darunter. Hans Deichmann zog zu seiner neuen Lebenspartnerin Luisa Castiglioni, einer Architektin, nach Mailand. Die Mutter blieb mit ihren Kindern in Inverigo zurück, soweit sie noch im Haus waren. Die familiäre Krise hinterließ ihre Spuren.
1963 bestand Mathias an einem Mailänder Gymnasium die Reifeprüfung. Danach schrieb er sich an der dortigen Universität ein und studierte Geschichte, Ökonomie und Sozialwissenschaft. Er war mit Elan bei der Sache und veranstaltete als Tutor selbst organisierte Seminare zur kritischen Unternehmensgeschichte. Aber er machte keinen Abschluss. Die Koordinaten seines Lebensentwurfs hatten sich inzwischen verschoben.
Mitte er 1960er Jahre geriet auch Mathias in den Sog des großen Aufbruchs, der die nachwachsenden Generationen weltweit erfasste. In Italien war die Sozialrevolte besonders breit gefächert. Im Gegensatz zu den übrigen Ländern gab es hier starke Bestrebungen, die verschollene Musikkultur der Unterklassen zu rekonstruieren und zu neuem Leben zu erwecken. Hier waren mitreißende Akteurinnen und Akteure am Werk: Giovanna Marini, Gianni Bosio, Dario Fo, Cesare Bermani und viele andere. Sie stellten sich die Aufgabe, das Liedgut der Arbeiterinnen und Arbeiter in seinen sozialgeschichtlichen Kontexten zu dokumentieren und in einem Nuovo Canzoniere Popolare verfügbar zu machen. Ensembles wurden gegründet, so etwa der Nuovo Canzoniere Italiano, und erste Verlage entstanden, die ihre Aufnahmen in den „Dischi del Sole“ zugänglich machten. Parallel dazu kam es 1966 zur Gründung des Istituto Ernesto de Marino, in dem die Ergebnisse der ethno-musikalischen Feldforschung archiviert und verfügbar gemacht wurden. Alle diese Initiativen waren in das Spektrum der aufkommenden neuen Linken integriert. Besonders stark waren ihre Beziehungen zu den Operaisten, zur Gruppe Lotta Continua und zur Friedensbewegung.
In diesem Teil der Sozialrevolte wurde Mathias Deichmann aktiv. Das war kein Zufall. In seiner Familie gab es sehr lebendige Bezüge zur Musik. Mathias‘ Eltern hatten in ihren Jugendjahren einem in Wien angesiedelten Freundeskreis – dem Schwarzwaldkreis – angehört, in dem auch junge Musiker präsent waren. Daraus waren lebenslange Freundschaften entstanden. Einer ihrer engsten Freunde war der Pianist Rudolf Serkin. Er veranstaltete im kanadischen Marlboro jährlich Musikfestivals, und Mathias durfte seine Mutter auf ihren Reisen dorthin begleiten. Zweifellos war das etwas ganz anderes als die Entdeckungsreisen des Nuovo Canzoniere Popolare zum Liedgut der traditionellen Unterklassen. Aber auch da ging es mit erstaunlicher Professionalität und musikalischer Aufführungskompetenz zu. Mathias wurde Aktivist des Istituto Ernesto de Martino und Mitherausgeber der „Dischi del Sole“, die bei der Edizione Del Gallo erschienen.
In diesen Jahren gab es aber auch erhebliche Turbulenzen. Es kam zu schweren Auseinandersetzungen zwischen dem militanten Flügel der neuen Linken und der Staatsmacht, die in eine Grauzone von Gewalt und Gegengewalt hineinführten. Im Frühjahr 1972 wurde ein junger Anarchist während eines Verhörs im Mailänder Polizeipräsidium aus dem Fenster geworfen und starb. Mehrere linke Gruppierungen bezichtigten den Polizeikommissar Luigi Calabresi der Tat. Er wurde im Mai vor seinem Haus erschossen. Das hatte Folgen für Mathias Deichmann. Zu Beginn der Fahndung wurde er als Mittäter verdächtigt und zur Verhaftung ausgeschrieben. Für ihn war das auch deshalb gefährlich, weil er sich nicht um die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung bemüht hatte – wie alle Angehörigen der Familie war er noch Deutscher. In dieser Situation tat er das einzig Richtige: Er floh in die Schweiz zu seiner Schwester Maria, die dort seit 1960 mit einem Arzt verheiratet war. Nachdem sich der Verdacht der Mittäterschaft als haltlos herausgestellt hatte, kehrte er nach Italien zurück. Dort heiratete er Ende 1972 die Lehrerin Francesca Colombo, die zwei Söhne in die Ehe mitbrachte. 1973 wurde ihre Tochter Maddalena geboren.
In den folgenden Jahren blieb Mathias weiter im Kontext des Istituto Ernesto de Martino aktiv. Francesca war inzwischen in einem Schulbuchverlag tätig und besuchte in dieser Funktion regelmäßig die Frankfurter Buchmesse. Mathias begleitete sie mehrfach. 1976 lernte er bei dieser Gelegenheit den Sozialwissenschaftler Zissis Papadimitriou kennen, der zu dieser Zeit an einem Projekt des Instituts für Sozialforschung mitarbeitete. Es entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft. Ein Jahr später war Mathias noch einmal länger in Frankfurt. Möglicherweise war er als Vertreter der Edizione del Gallo tätig, denn die von ihr veröffentlichten „Dischi del Sole“ genossen mittlerweile in der westdeutschen neuen Linken Kultstatus.
Zu Beginn der 1980er Jahre endete die Ära des sozialen Aufbruchs. In Italien verlief ihr Niedergang unter dem Druck der Repression und der Massenverhaftungen besonders dramatisch. Wie tausende Andere musste auch Mathias sich neu erfinden. Er wurde nun Unternehmensberater, und dabei war er durchaus erfolgreich. Dem musikalischen Genre wollte er jedoch verbunden bleiben. Er beteiligte sich an den Überlebensversuchen des Istituto Ernesto de Martino, aber der Nuovo Canzoinere Popolare hatte an Popularität verloren. Deshalb wechselte er das Terrain und kehrte zu den Kontexten der „klassischen“ Instrumentalmusik zurück, die sich von seinen Eltern und dem auch von ihm besonders verehrten Rudolf Serkin auf ihn übertragen hatten. Dies fiel ihm umso leichter, als auch sein Vater nach seinem altersbedingten Rückzug aus seinen unternehmerischen und wirtschaftspolitischen Funktionen zu einem aktiven Förderer der musikalischen Ausbildung und der kammermusikalischen Praxis avanciert war.
Der neue Lebensabschnitt begann im Jahr 1987, als Mathias Piero Farulli, dem Gründer und musikalischen Leiter der Musikschule in Fiesole bei Florenz, einen Scheck seines Vaters zur Finanzierung ihres Ausbaus überreichte; Hans Deichmann hatte einige Monate zuvor die Stiftung OMINA Freundeshilfe gegründet. Farulli, der ehemalige Bratschist des Quartetto italiano, war völlig überrascht. Aber die Wahl des Adressaten war kein Zufall. Die 1976 gegründete Musikschule Fiesole setzte unter Farullis Regie ein Programm um, das wegweisend war. In den Meisterkursen engagierte sie sich für eine technisch optimale Ausbildung der Instrumentalisten, legte aber zugleich Wert auf die kulturelle und geschichtsbewusste Bodenhaftung des künstlerischen Nachwuchses. Parallel dazu ermöglichte sie Unterschichtskindern eine kostenlose musikalische Grundausbildung, die sie zur Teilnahme an Orchesterkursen befähigte und den Grundstock für den Aufbau und die Unterhaltung des Italienischen Jugendorchesters bildete. In allen drei Schulrichtungen waren prominente Musiker und Komponisten tätig, so etwa Maurizio Pollini, Luciano Berio, Farullis Nachfolger Andrea Lucchesini und der Bratschist des Wiener Alban Berg-Quartetts Hatto Beyerle. Vor allem ihm verdankten viele Nachwuchsquartette ihren Aufstieg. Beyerle gründete 2002 an der Musikschule Fiesole eine Europäische Streichquartett-Akademie, aus der zwei Jahre später – ebenfalls unter seiner Regie – die European Chamber Music Academy (ECMA) hervorging.
Die Musikschule Fiesole und später auch die ECMA wurden Mathias Deichmanns zweite Heimat. Mit Furillo, Lucchesini und Beyerle verbanden ihn bald tiefe Freundschaften, und die Ensembles zahlreicher Nachwuchsquartette schätzten ihn als wohlwollend zugewandten Kritiker. Auch die Trägergesellschaften der Schule suchten immer wieder seinen Rat. Zu ihren Fördergremien gehörte bald auch die väterliche Stiftung, in deren Stiftungsrat er später kooptiert wurde. Auch an der materiellen Konsolidierung der ECMA war sie mit Fördermitteln beteiligt. Noch wichtiger war indessen seine Beraterkompetenz beim Aufbau der ECMA, die Beyerle überaus schätzte. Deshalb übernahm Mathias einige Jahre nach ihrer Gründung die Präsidentschaft – er hatte sie bis zu seinem achtzigsten Lebensjahr inne Die ECMA ermöglicht ausgewählten Nachwuchsquartetten und -trios eine zweijährige Weiterbildung, die von Dozenten moderiert wird. Dabei arbeitet sie mit den bedeutendsten europäischen Musikhochschulen und Konservatorien zusammen, mit denen sie auf einwöchigen Jahres-Sessionen ihre Erfahrungen austauscht.
1997 starb Francesca Colombo, die erste Lebenspartnerin Mathias Deichmanns. Zwei Jahre später lernte er Vita Marra kennen. Sie war wie er durch die Jahre des sozialen Aufbruchs geprägt worden. Sie gehörte dem Freundeskreis des Literaturwissenschaftlers und Publizisten Alberto Astor Rosa an, der sich mit Beiträgen in den Zeitschriften Quaderni Rossi und Classe Operaia an der Formierung der neuen Linken beteiligt hatte. Mathias und Vita lebten sieben Jahre zusammen, bevor sie im April 2006 in Fiesole heirateten. Die Zeremonie wurden von einem Lehrer des Viola-Meisterkurses mit Kompositionen der Spätromantiker Robert Schumann und Johannes Brahms umrahmt. Vita und Mathias lebten bis 2023 in der Deichmann-Villa in Inverigo. Danach bezogen sie ein Wohnhaus in dem nahe gelegenen Albavilla in der Nähe des Comersees.
Ich lernte Mathias gegen Ende der 1990er Jahre kennen, später auch Vita. Die Anlässe unserer seitherigen Begegnungen waren vielschichtig. Sie ergaben sich zunächst aus der Kooperation mit seinem Vater, der seit seinem Rückzug aus der Wirtschaft autobiographisch und publizistisch tätig war und mit unserer Stiftung und der von ihr herausgegebenen Zeitschrift zusammenarbeitete. In diesem Kontext bekam Mathias mit, dass ich mich auch mit der Geschichte des Streichquartetts im 20. Jahrhundert beschäftigte. Dabei interessierten mich vor allem die sozial- und kulturgeschichtlichen Kontexte der Komponisten und Ensembles. Dieser Ansatz faszinierte Mathias, und so ergab sich ein freundschaftlicher Dialog, in den er seine reichen Erfahrungen einbrachte. Aber auch die gemeinsame Herkunft aus der neuen Linken brachte uns näher, so disparat sie auch immer gewesen sein mag. An unserem Austausch darüber waren auch andere Weggefährten beteiligt, die uns beiden wichtig waren. 2015 eilten wir nach Thessaloniki, wo unser gemeinsamer Freund Zissis Papadimitriou im Sterben lag.
Nach dem Tod Hans Deichmanns führten seine Tochter Maria Lauper und Mathias die von ihm gegründete Stiftung weiter. Sie förderte seit langem Projekte zur Rehabilitation behinderter Kinder, zur Bekämpfung der Mafia und zum Schutz proletarischer Kinder aus den Armenvierteln Neapels. Dann kam die Förderung der Musikschule Fiesole und ihrer Folgeprojekte hinzu. Zusätzlich beteiligte sich die Stiftung der Deichmanns (OMINA Freundeshilfe) an der Gründung einer Initiative, die direkt mit der Geschichte ihrer Familie zu tun hatte. Mathias‘ Tante Freya Moltke, eine geborene Deichmann, war seit 1931 mit dem Gutbesitzer Helmuth James von Moltke verheiratet gewesen und hatte mit ihm in niederschlesischen Kreisau zusammengelebt. 1945 hatten die Nazis den Gründer des Kreisauer Kreises hingerichtet. Um diesen Teil ihrer Geschichte wachzuhalten, unterstützt OMINA seit den 1990er Jahren die Freya von Moltke-Stiftung für ein neues Kreisau bei ihren Bemühungen, das ehemalige Rittergut in eine internationalen Begegnungsstätte umzuwandeln. Seit der Jahrtausendwende unterstützt die OMINA-Freundeshilfe auch unsere Einrichtung. Sie übereignete uns den Nachlass ihres 2004 verstorbenen Gründers, eine Biographie ist in Vorbereitung.
In diesen Kontexten sind wir uns immer wieder begegnet. Wir trafen uns im März 2011 anlässlich der Feiern zum 100. Geburtstag seiner Tante Freya in Köln und bestaunten gemeinsam das riesige Deichmannhaus am Vorplatz des Hauptbahnhofs. Ein knappes Jahr später sichteten wir in Inverigo den Nachlass Hans Deichmanns. Im September 2013 trafen wir uns am Grundlsee im Salzkammergut, wo sich Senta und Hans Deichmann zum ersten Mal begegnet waren und sich Freya Deichmann in Helmuth James von Moltke verliebt hatte. Dies sind nur einige Beispiele. Ein weiteres Jahr später war ich während einer längeren Archivreise bei Mathias und Vita zu Gast.
Zu weiteren Begegnungen wird es nun nicht mehr kommen. Der Tod hat Mathias – Matteo – Deichmann mit sich genommen. Für die Angehörigen ist dies ein schrecklicher Verlust. Wir, seine Freundinnen und Freunde, trauern mit ihnen. Wir werden ihn sehr vermissen.
Karl Heinz Roth