Aus dem Tätigkeitsbericht 2014 der Stiftung Sozialgeschichte

Folk Revival der 1960er Jahre (Walter Mossmann)

 

Mein ursprüngliches Konzept, das italienische Folkrevival der 1960er Jahre aus dem internationalen Kontext herausgelöst zu betrachten und die zeitgleichen Folkrevivals in anderen Ländern nur durch «Seitenblicke» zum Vergleich heranzuziehen, war falsch. Ich habe es nach einigen Anläufen und Irrläufen aufgegeben. Das Folkrevival der 1960er Jahre war ein internationales Phänomen und charakterisiert viel eher (avant la parole) eine globale Generation als eine nationale Jugendkultur. Träger des Revivals war grenzüberschreitend eine Generation der westlichen Nachkriegsgesellschaften in Europa und in den beiden Amerikas, angeführt von den Alterskohorten der Jahrgänge 1939-42. (Welche Berührungspunkte es mit der literarischen Generation der «Sechziger» in den verschiedenen Ländern der Sowjetunion und etwas zeitverschoben mit den regionalen sowjetischen/postsowjetischen Folkrevivals gibt, die sich durchaus als «antiimperialistisch» verstanden, muss an anderer Stelle untersucht werden, etwa am Beispiel der ukrainische Liedermacher Wolodymyr Iwasiuk aus Czernowitz und des Festivals «Tscherwona Ruta»)

 

Deshalb habe ich das Untersuchungsgebiet ausgeweitet auf folgende Orte:

 

(1) Italien ab Ende der 1950er Jahre mit den Projekten Cantacronache (Turin) und ab 1962 Nuovo Canzoniere Italiano (Milano). Dreimal Spott auf die führenden Ethnomusikologen Fausto Amodei, Sergio Liberovici, Roberto Leydi, auf die stilbildenden Folksinger Giovanna Daffini, Sandra Mantovani, Michele L. Straniero und auf die innovativen Cantautori Giovanna Marini und Ivan della Mea. Ihre Beziehungen zu den politischen Parteien von PS, PSIUP und PCI bis Lotta Continua. Ihre Schallplatten, Liederbücher und die Präsenz in den Medien. (Vorarbeiten dazu meine Texte und Radiosendungen seit 1965 und mein Archiv)

(2) Großbritannien, Schwerpunkt Schottland. Im Zentrum die Figur des Sammlers, Sängers, Songwriters Ewan MacColl. Die soziokulturelle Basis seiner Arbeit: eine erstaunliche Kultur der Folkclubs (in England allein 5000). Politisch verbunden mit der KP. Die Grenze zwischen Folk-Revival und Popkultur absolut durchlässig. Ewan MacColl war genauso zuhause im UK wie in den USA oder auch in Italien. Schon 1949/50 hat er zusammen mit Allan Lomax Feldforschung in Kalabrien betrieben. (Materialien und Vorarbeiten wie bei (1), dazu ein langes Interview mit Ewan MacColl und Peggy Seeger von 1974.)

(3) Katalonien, vor allem Barcelona und Valencia. Protagonisten: Raimón und Francesc Pi de la Serra. Außerdem das Duo Juan & José, das die westdeutschen Waldeck-Festival mit-geprägt hat. Hier außer den politischen Linien zur antifrankistischen Opposition  (Sozialisten, Kommunisten, Anarcho-Syndikalisten, Carlisten) und zu den verschiedenen bewaffneten Gruppen zusätzlich das in den 1970er Jahren neue Thema des Regionalismus. Querverbindungen also zu Basken, Occitaniern, in die Bretagne und ins Elsass und außerdem zu den neuen Themen der 1970er Jahre, die wir unter der Chiffre Ökologie zusammenfassen. (Larzac, Plogoff, Fessenheim).

(4) Lateinamerika. Schwerpunkt Santiago de Chile (Violeta Parra) und Ciudad Mexico (Judith Reyes und das Massaker vom Platz der drei Kulturen in Tlatelolko). Die besondere Rolle, die tradi­tionell Paris spielt für Lateinamerika, sowohl als Fluchtpunkt als auch als der Ort der Buch- und Schallplatten-Verlage. (Nach 1959 zeitweise in Konkurrenz bzw. in Kooperation mit Havanna.)

(5) USA. Hier das Zentrum Newport-Festival, die bekannten Superstars der Epoche, aber Eingrenzung auf den wichtigsten Ethnomusikologen Pete Seeger (KP-Tradition) und den wichtigsten politischen Songwriter Phil Ochs (Studentenbewegung/Bürgerrechte/Vietnam/Lateinamerika)

(6) BRD. Die Festivals Chanson Folklore International auf Burg Waldeck 1964 – 1969. Die Besonderheit in diesem deutschen Fall: Im Gegensatz zu allen anderen Revivals war für die deutschen Folkoristen und Sänger die Tradition der Volksmusik ein vermintes Gelände, das Material durch den nazistischen Gebrauch unbrauchbar geworden. Die Wieder­entdeckung brauchbarer Traditionslinien ist u.a. zu verdanken dem westdeutschen Sänger und Ethnomusikologen Peter Rohland und dem Volksliedforscher Wolfgang Steinitz aus der DDR.

 

Das Revival der 1960er Jahre hat in der Folge dann hineingewirkt in die nationalen und in die internationale Popkultur, in die neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre, wurde abgelöst von anderen Ausdrucksformen des politischen Protests (Punk, HipHop etc.) und fand erstaunlicherweise nach 1989 unter ganz anderen Vorzeichen ein seltsames Remake in der Folk- und Liedermacherkultur der neuen deutschen Rechten.