Klaus Gietinger, Karl Heinz Roth: »Hunderttausende Leben hätten gerettet werden können«. Über die Fehler im Kampf gegen die Coronapandemie und das Zusammenspiel von Virus und Kapitalismus. Ein Gespräch mit Karl Heinz Roth, in: Junge Welt (15.10.2022) S. 1 (Beilage) / Wochenendbeilage, online in: https://www.jungewelt.de/artikel/436730.medizingeschichte-hunderttausende-leben-hätten-gerettet-werden-können.html (Stand: 01.11.2022).

Interview mit Klaus Gietinger on der Wochenendausgabe (15./16.10.) der jW (gekürzte Fassung).

Die ungekürzte Langfassung finden Sie hier:

 

Gietinger: Der Titel deines Buches „Blinde Passagiere“ ist genial, stammt er von Dir oder vom Verlag?

Roth: Er stammt von mir. Ich habe das Buchmanuskript schon mit diesem Titel an den Kunstmann-Verlag geschickt.

 

Als Dr. Dr. schlagen zwei Herzen in deiner Brust, das des Mediziners und das des Soziologen, welches hat dich dazu gebracht ein solch fundiertes Buch über die Coronakrise zu schreiben?

Beides zusammen, und das ging dann recht bald über das engere Feld einer in die Gegenwart zurückgeholten Medizingeschichte hinaus. Für mich war die quasi-historische Analyse der Pandemie eine intellektuelle Herausforderung. Sie konnte nur durch eine integrierende Darstellung ihrer wichtigsten Einzelaspekte – Virologie, Epidemiologie, klinische Medizin, Medizinstatistik, Medikamenten- und Impfstoffentwicklung, aber auch Alltags- und Mentalitätsgeschichte, soziologische, politische und wirtschaftliche Fragen – bewältigt werden. Und das alles quasi in Echtzeit, also im ständigen Fortschreiten eines komplexen Prozesses, der mehrere Aktualisierungen erforderlich machte.

 

Zu Beginn der Krise bin ich als medizinischer Laie ja in die Irre gelaufen, ein ehemaliger Gesundheitsamtsleiter und Sozialdemokrat hat mich kurzzeitig auf den Trip gebracht, es sei alles gar nicht so schlimm. Wie ging es dir als Fachmann?

Zuerst nahm ich ebenfalls an, es handle sich um eine mittelschwere Pandemie, einer Influenza-Pandemie vergleichbar. Dann kamen die ersten Berichte aus China: Mehr als die Hälfte der Infizierten, vor allem jüngere Menschen, bleibt symptomlos oder erkrankt nur leicht, aber Chronischkranke und ältere Menschen sind erheblich gefährdet. Seitdem war mir klar, dass sich da etwas wesentlich Schlimmeres anbahnte.

 

Und gleich eine Gretchenfrage, ist Wuhan der Ursprung oder kommt das Virus doch aus einem Labor?

Aus einem Forschungslabor kommt SARS-CoV-2 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Der Wildtyp des Virus ist wahrscheinlich aber auch nicht in Wuhan entstanden. Wuhan war nur das erste Cluster, wo Covid-19 entdeckt und identifiziert wurde. Es gab offensichtlich eine prä-pandemische Phase mit einzelnen Übertragungen des von den Fledermäusen auf Zwischenwirte übergesprungenen Virus auf den Menschen. Diese Vorphase spielte sich in Zentralchina, wahrscheinlich aber auch in Südostasien und sogar in Norditalien ab. Die endgültige Aufklärung dieser Entstehungsgeschichte ist eine der größten Herausforderungen für die virologisch-epidemiologische Forschung in den nächsten Jahrzehnten.

 

Wie siehst du den Stand der Dinge:

  1. Opferzahlen
  2. Ist es mit der „Spanischen Grippe“ vergleichbar, also eine sehr schlimme Pandemie?
  3. Gibt es Unterschiede zu anderen Atemwegskrankheiten?

Zu 1.: Offiziell sind aktuell (35. Kalenderwoche, 29.8.-4.9.2022) knapp 600,4 Millionen Infizierte und knapp 6,5 Millionen Todesopfer registriert worden. Unter Berücksichtigung der Dunkelziffern ist von weit höheren Zahlen auszugehen. Weltweit haben sich 2,7 bis 2,8 Milliarden Menschen mit SARS-CoV-2 angesteckt, und 8,3 Millionen Menschen dem Erreger zum Opfer gefallen sind. Das sind wohlgemerkt Minimalschätzungen. Die Experten der Weltgesundheitsorganisation rechnen mit zwölf Millionen Pandemieopfern.

Zu 2.: In einigen Weltregionen, beispielsweise den USA, sind schon jetzt weitaus mehr Menschen an Covid-19 gestorben als während der Influenza-Katastrophe 1918-1920. In anderen Kontinenten, vor allem Afrika und Ostasien, sind es dagegen erheblich weniger. Im globalen Durschnitt hat die Corona-Pandemie schon jetzt mehr Menschenleben gefordert als in allen schweren Influenza-Pandemien nach der ´Spanischen Grippe´ zusammengenommen. Zur Influenza-Pandemie von 1918-1920, bei der 50 Millionen Menschen starben, besteht noch ein deutlicher Unterschied. Aber beim Blick auf die Zahlen der weltweit Infizierten und Erkrankten ergibt sich eine deutliche Annäherungstendenz.

Zu 3.: Es gibt deutliche Unterschiede zu den anderen akuten Atemwegserkrankungen. Bei den Influenza-Pandemien erkranken beispielsweise neben den Älteren vor allem die Kleinkinder, bei Covid-19 ist das völlig anders. Bei den Vor-Pandemien (SARS-CoV-1 2002/03 und MERS 2021) entwickelten die meisten Infizierten deutliche Krankheitssymptome und konnten rasch isoliert werden.   Bei schweren Verläufen – dem schweren akuten Atemwegssyndrom (SARI) – ist das Krankheitsbild jedoch bei allen atemwegsspezifischen Pandemien ziemlich ähnlich. 

 

Was waren die Fehler bei der Bekämpfung, hätte die Ausbreitung verhindert werden können?

Vor allem in den Anfangsphase wurden schwere Fehler gemacht, insbesondere bei der verspäteten Alarmierung und Mobilisierung der seit den Vor-Pandemien entwickelten epidemiologischen Frühwarnsysteme. Auch die Vorratslager für die Infektionshygiene – Gesichtsmasken, Desinfektionsmittel und Schutzkleidung – waren leer. Hinzu kam, dass aus den Besonderheiten der Ausbreitung – sie verläuft ja bei mehr als der Hälfte unerkannt – keine Konsequenten gezogen wurden. Und dann wurden auch noch die elementaren Regeln des Public Health missachtet.

Ob die globale Ausbreitung der Pandemie bei einem korrekten Vorgehen hätte verhindert werden können, weiß niemand. Sicher ist nur, dass ihre unkontrollierte Ausbreitung und ihre verheerenden Folgen vermeidbar waren. Vor allem aber hätten bei einem gezielten und transnational koordinierten Vorgehen hunderttausende Menschenleben gerettet werden können. 

 

Waren die Lockdowns falsch?

Sie waren ineffizient und haben allenfalls die Infektionskurven etwas abgeflacht. Es handelte sich um eine Art Schrotschussmethode, die mit seinen allgemeinen Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren, Grenzschließungen und Reiseverboten ungeheure soziale, politische und wirtschaftliche Schäden anrichtete. Besonders gravierend ist, dass dabei die Grundregeln der Prävention, der Infektionshygiene und des Public Health missachtet und der Schutz der besonders Gefährdeten extrem vernachlässigt wurde.

 

Wie war die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft bzw. den Weltkapitalismus?

Nach dem Shutdown in China brach auf den internationalen Kapitalmärkten eine Panik aus, eine echte Stampede. Zusätzlich wurden weltwirtschaftlich wichtige Lieferketten brüchig. Da das chinesische Zero Covid-Projekt weltweit in mehr oder weniger abgeschwächter Form nachgeahmt wurde (´Großer Lockdown´), drohte ein globaler ökonomischer Kollaps. Er konnte nuur durch massive und historisch einmalige Stützungsoperationen der führenden Zentralbanken und durch gigantische fiskalische Stabilisierungspakete verhindert werden. Dazu waren aber nur die entwickelten Zentren in der Lage. Die Ungleichgewichte vertieften sich, und der Globale Süden wurde einmal mehr abgehängt. Die Krise ging in eine lange Depression über, die schon vor Beginn des Ukraine-Kriegs die Charakteristika einer Stagflation annahm.

 

Du bist beileibe kein Impfgegner, aber war es falsch sich faktisch allein auf das Impfen zu verlassen?

Impfstoffe sind ein wichtiges Instrument im Werkzeugkasten der medizinischen und gesundheitspolitischen Gegenmaßnahmen. Sie kommen aber nur zur Wirkung, wenn sie mit den übrigen Komponenten – Prävention, Infektionshygiene, Mobilisierung und Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens, Entwicklung neuer Medikamente und Optimierung der medizinisch-klinischen Behandlung – kombiniert werden. Das aber unterblieb weitgehend. Impfstoffe sind keine Allheilmittel, vor allem dann nicht, wen sie bei einer Pandemie nicht in allen Weltregionen gleichzeitig in einer koordinierten Aktion eingesetzt werden.

 

Covid zeigt, wie du schreibst, den katastrophalen Zustand des auf Profit getrimmten Gesundheitswesens, nicht nur in Deutschland. Was müsste anders werden?

Das Gesundheitswesen ist in den letzten Jahrzehnten in eine krisensichere und äußerst rentable Anlagesphäre für renditesuchendes Kapital umgewandelt worden, und zwar auf allen Ebenen, einschließlich des Pflegeberichs. Es war schon vor der Pandemie überlastet, und die Beschäftigten arbeiteten am Limit. Die Pandemie hat diese katastrophale Entwicklung schonungslos bloßgelegt. Die Konsequenz kann nur sein, das Gesundheitswesen zu sozialisieren – von den Pharma- und Bottich-Giganten bis hin zu den Krankenhaus- und Pflegekonzernen. Damit ist keine Verstaatlichung gemeint, sondern ein systematisch durchdachter Ansatz, der viele Komponenten enthält – international vernetzte Entwicklungszentren in Selbstverwaltung der WissenschaftlerInnen und demokratisierten Gesundheitsbehörden, die Re-Kommunalisierung der stationären Bereiche auf Gemeindeebene, die Umwandlung der ambulanten Sektoren in poliklinisch orientierte Gemeinschaftspraxen, usw. Hier eröffnen sich neue Perspektiven für einen neuen Aufbruch der Gesundheitsbewegung.

 

Denkbar wäre das sicher, aber gibt es eine reale Chance, dass da was passiert? Woher müsste der Druck kommen?

Seit Herbst 2021 gibt es weltweit Protestkampagnen und Streikbewegungen im Gesundheits- und Pflegebereich. Ihre wichtigsten Akteure sind die Care Workers, Fachkräfte der mittleren Qualifikationsebene. Ein zweiter Ansatzpunkt sind die nicht staatlichen medizinischen Hilfsorganisationen – Ärzte ohne Grenzen, medico international usw. Sie führen seit Jahren einen kaum öffentlich wahrgenommenen Kampf gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens im Globalen Süden, den sie mit wichtigen Initiativen zur konkreten Verbesserung der Basisversorgung verbinden.

Aktuell sind dies nur zwei Ansatzpunkte. Aber sie existieren, und wir alle sollten uns auf sie zubewegen, statt uns in sinnlosen Auseinandersetzungen zwischen Zero Covid und Impfgegnerschaft zu verlieren.

 

Wen hat es in Deutschland, Europa und Nordamerika besonders betroffen?

Das ist ein komplexes Problem, über das noch intensiv zu forschen sein wird. Klar ist schon jetzt, dass es einige wichtige Erklärungsfaktoren gibt: Erstens die überproportional hohe Lebenserwartung, der Anteil der besonders gefährdeten Menschen über 70 Jahre ist weitaus höher als beispielsweise in Afrika oder Südasien, im Mittleren Osten und großen Teilen der westlichen Pazifikregion. Zweitens spielt die vor allem in den USA, Europa und Lateinamerika besonders weit vorangetriebene Deregulierung des Gesundheitswesens eine wichtige Rolle. Drittens hatte der Niedergang des Gesundheitswesens zur Folge, dass gerade in den als ´reich´ klassifizierten Regionen die verarmten und marginalisierten Unterschichten der arbeitenden Klassen besonders häufig chronisch erkrankt sind. Hinzu kommt viertens, dass ausgerechnet in diesen Weltregionen die Holzhammermethode des ´Großen Lockdown´ den gezielten Schutz dieser Gsellschaftsgruppen vernachlässigt hat. Hier trat erst während der dritten und vierten Pandemiewelle ein gewisser Wandel ein. Bis dahin waren Hunderttausende völlig unnötig zugrunde gegangen.

 

Wie sieht es im globalen Süden aus?

Im Globalen Süden ist die Situation sehr unterschiedlich. Südafrika war beispielsweise ein besonderer Hot Spot, das Subsaharische Afrika blieb dagegen weitgehend verschont. Ähnliche Unterschiede gab und gibt es auch in Lateinamerika, im Nahen und Mittleren Osten und in Südostasien. Generell stand und sttehtCovid-19 im Globalen Süden nicht so sehr im Zentrum der Gesundheitskrise wie in den hoch entwickelten Regionen. AIDS, Tuberkulose, Malaria und andere Massenkrankheiten machen den Menschen des Globalen Südens weitaus mehr zu schaffe, nicht zuletzt auch wegen der weit verbreiteten Mangelernährung, des unterentwickelten Gesundheitswesens und der fehlenden Basishygiene.

Kurzum: Covid-119 grassiert weltweit, aber die Pandemie ist in erster Linie ein Problem der entwickelten Zentren und der zu ihnen aufschließenden Schwellenländer. Hier sind mehr als drei Viertel aller Todesopfer zu beklagen.

 

Was ist mit der Linken passiert? Du schreibst, dass sich zwei Lager gebildet haben, mit beiden hast du wenig am Hut. Warum?

Was ist noch die ´Linke´? Ich sehe, ehrlich gesagt, keine kohärente Linke mehr, die auch nur minimal in der Bevölkerung verankert wäre und diese Zuschreibung rechtfertigen würde. Dass die ´Linke´ sich angesichts der Pandemie einen absurden Showdown zwischen zwei falschen Extremen – Zero Covid und Covid-Leugner – geleistet hat, ist katastrophal. Das waren gewissermaßen ihre letzten Sargnägel. Dieser Showdown war aber nur ein Symptom, nicht aber die Ursache des Niedergangs der Linken.

 

Was nervt dich besonders an Zero-Covid?

Die völlige Unbedarftheit und Verantwortungslosigkeit dieses Ansatzes haben mich erschreckt. Hier haben linke Politik- und Sozialwissenschaftler an ihren Schreibtischen eine politische Strategie konzipiert, die sich China und andere ´harte´ Lockdown-Regimes zum Vorbild nahm. Zu glauben, die Gesellschaft sechs Wochen lahmlegen und dann nach ihrer Freilassung die Verstaatlichung des Gesundheitswesens in Angriff nehmen zu können, ist nicht nur realitätsfremd, sondern auch extrem autoritär und etatistisch. Diese Kolleginnen und Kolleggen haben nicht die geringste Ahnung von der Dynamik einer Pandemie und rücken ihr mit linearen Modellrechnungen zu Leibe, bei denen sie die nur epidemiologisch fassbaren nichtlinearen Komponenten ausklammern, die durch das Auftreten immer neuer Varianten und einen wellenförmigen Verlauf geprägt sind. Besonders bemerkenswert finde ich, dass die Zero Covid-Propagandisten bis heute keine Selbstkritik geübt haben, obwohl sie inzwischen auch dort, wo diese Methode seit fast drei Jahren durchgängig praktiziert wird – in China –, ein für alle wahrnehmbarer Kampf gegen Windmühlen stattfindet.

 

Da hat es ziemlich gekracht. Gibt es denn nach fast drei Jahren wieder eine Annäherung?

Nein. Meine Untersuchungen werden in diesem Spektrum bis heute entweder totgeschwiegen oder verrissen. Es gab bis jetzt nur eine einzige Veranstaltung, auf der Zero Covid-Exponenten und Corona-leugner respektvoll mit mir und untereinander diskutierten, statt gleich aufeinander loszugehen und handgreiflich zu werden. Das war in Münster, arrangiert vom dortigen Institut für Theologie und Politik. Diese Ausnahme verdanken wir einem Team, das durch die lateinamerikanische Befreiungstheologie inspiriert wurde.

 

Wie sehen die Perspektiven bei Covid aus?

Niemand kann voraussagen, wie es mit der Pandemie weitergehen wird. Jederzeit können neue Varianten auftreten, denn in vielen Wild- und Nutztierpopulationen haben sich neue Reservoire gebildet. Wir werden von Glückreden können, wenn auf die letzten Sublinien der Omikron-Variante keine weiteren mehr folgen. Falls doch, kann es sehr kritisch werden, denn aus den Lehren der Pandemie sind keine Konsequenzen gezogen werden. Die Kommerzialisierung und Deregulierung des Gesundheitswesens geht weiter; nach wie vor sollen vor allem allein angepasste Impfstoffe das Schlimmste verhindern.

 

Was würdest du als unbedingt notwendig erachten?

Akut geht es um die Beseitigung der wichtigsten Engpässe: Die Anlage ausreichender Reserven zum Hochfahren der Infektionshygiene, die sofortige materielle Aufwertung, soziale Sicherung und Qualifizierung der Pflegeberufe, den Aufbau ambulanter und stationärer Behandlungsreserven, und den weltweit koordinierten Ausbau der epidemiologischen, pharmakologischen und klinisch-medizinischen Forschung durch die dort tätigen Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter. Das alle ist aber nur zu haben, wenn gleichzeitig auch die mittelfristigen Voraussetzungen dafür, die Sozialisierung des Gesundheitswesens, sofort durchgesetzt werden. Dieser Umbau erfordert gewaltige gesellschaftliche Investitionen – zu Lasten der aktuellen Aufrüstungsspirale wäre das jederzeit möglich.

 

Du bist ja auch ein Top-Historiker und machst in deinem Buch klar, dass man aus der Geschichte lernen kann. Die Namen Koch und Pettenkofer fallen da, aber du erklärst auch auf welchen Druck hin die gearbeitet haben. Ist ein solcher Druck jetzt auch denkbar? Gibt es positive Beispiele?

Ja, es gibt sie. Aber sie fristen gegenwärtig ein Schattendasein und zermürben sich im alltäglichen Kampf um die Aufrechterhaltung der medizinischen Grundversorgung – und das keineswegs nur im Globalen Süden. Hinzu kommen die sichtbaren Komponenten, die weltweiten Kämpfe der Care Wirkers -, über die wir schon gesprochen haben. Wie sich die sichtbaren und die im Stillen wirkenden unsichtbaren Antagonisten des Kommerzialisierungs- und Deregulierungswahns zu einer geschichtsmächtigen Gegenkraft bündeln könnten, weiß aktuell niemand. Wir wissen nur, dass sich die ´Linke´ als möglicher Geburtshelfer verabschiedet hat.

 

Noch eine Gretchenfrage, gibt es einen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Corona?

Diesen Zusammenhang gibt es durchaus. Corona ist das Produkt der kapitalistischen Dynamik der letzten Jahrzehnte, auch wenn sie im Kern ein für die Menschen katastrophales Naturereignis darstellt. Das Virus koexistiert mit bestimmten Fledermausarten und spinnt in periodischen Abständen auf tierische Zwischenwirte über. Das alles ist Teil eines spezifischen ökologischen Systems. An diese Systeme rückt die kapitalistische Urbanisierung immer näher heran, und damit steigt das Risiko einer fatalen Einbeziehung der Menschen in diese Kreisläufe. Hinzu kommt der durch die kapitalistische Expansion forcierte Klimawandel, der bei den für die Coronaviren empfänglichen Fledermauspopulationen Migrationswellen in die Nähe der neu entstandenen städtischen Agglomerationen auslöst. Noch wichtiger ist drittens der in den letzten Jahrzehnten beschleunigte Übergang der Viehwirtschaft zur Massentierhaltung – ein buchstäblich gefundenes Fressen für die Ausbreitung von Zoonosen wie etwa Corona, also für ansteckende Infektionskrankheiten, die auf einer Interaktion zwischen den Menschen und der Tierwelt beruhen.

Das sind die drei wesentlichen Aspekte des Zusammenhangs zwischen kapitalistischer Dynamik und Naturzerstörung, der immer häufiger Pandemien hervorbringt.

Hinzu kommen die ´endogenen´ Komponenten des kapitalistischen Systems, über die wir oben gesprochen haben: Die von chronischen Erkrankungen besonders betroffenen und zugleich am schlechtesten versorgten  Unterklassen, die durch die kapitalistische Durchdringung des Gesundheitswesens begünstigte Verschlimmerung der Pandemie, aber auch die rapide Beschleunigung ihrer Ausbreitung durch das immer schneller gewordene und globalisierte Transportwesen. Besonders wichtig ist schließlich die Tatsache, dass die prekär beschäftigen Schichten der Unterklassen dem Infektionsrisiko weltweit besonders stark ausgesetzt sind – man denke nur an die unhygienischen Arbeitsbedingungen in den Niedriglohnsektoren und die in Massenunterkünften zusammengepferchten Migrationsarbeiterinnen und Migrationsarbeiter.

Die Zusammenhänge – exogen wie endogen – sind also komplex, aber eindeutig. Wenn wir sie zusamndenken, kommen wir zu einer klaren Schlussfolgerung: Covid-19 ist die typische Pandemie des aktuellen kapitalistischen Zyklus, so wie die Cholera für die kapitalistische Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristisch war.

 

Wir müssen uns derzeit mit drei Katastrophen auseinandersetzen, der Klimakatastrophe, gegen die faktisch nichts gemacht wird, Covid, das die Welt noch mehr gespalten hat und der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der die einstigen Pazifisten, die Grünen zu jungen Kriegerinnen und alt-maoistischen Kriegern hat werden lassen. Ernst Jünger würde jubeln: Endlich wieder ein Weltkrieg im Visir. Haben wir da überhaupt noch eine Chance?

Vielleicht sind wir bei der Konfrontation mit der über uns hereingebrochenen Krisen-Triade tatsächlich chancenlos. Es ist durchaus zu bezweifeln, dass den auf uns folgenden Generationen der Aufbau einer Kontinente umspannenden Massenbewegung gegen die nun endgültig selbstzerstörerisch gewordene Dynamik des kapitalistischen Weltsystems gelingen wird.

Für uns hier in Deutschland bekommt diese Skepsis eine besondere Note.  In der Tat ist es schrecklich mitzuerleben, wie sich eine politische Strömung, die die Sozialrevolte der 1960er und 1970er Jahre enteignete und den Marsch in die Institutionen antrat, jetzt die letzten Relikte des ökologischen Aufbruchs hinter sich lässt und sich in die Kriegsökonomie des transatlantischen Machtblocks einkauft.

Trotzdem gehen die sozialen Kämpfe der ausgebeuteten Klassen weiter, und zwar weltweit – einschließlich der wissenschaftlich qualifizierten Prekären. Unsere Generation ist gescheitert. Aber wir haben nicht das Recht, diese kollektive Erfahrung auf die heute aktiven und ins aktive Leben eintretenden Generationen zu übertragen. Vielleicht werden sie aus unseren Fehlern lernen. Und vielleicht werden sie noch rechtzeitig erkennen, dass sie bei der Gestaltung ihrer Zukunft die Systemfrage nicht ausklammern können, wenn sie überleben wollen.